Von Ralf Keuper

In diesem Jahr wird der Geburt Westfalens als politischer Einheit im Jahr 1815 gedacht. Ein fürwahr historisches Ereignis. Bis dahin war Westfalen ein loser Verbund aus verschiedenen Regionen – betont dezentral – wie man heute dazu sagen würde. Das Herzogtum Westfalen etwa war nur ein Bruchstück dessen, was wir heute unter Westfalen verstehen.

Über die Gründe dafür, weshalb Westfalen erst relativ spät zu einem einheitlichen Gebilde wurde, ist viel spekuliert worden. Gustav Engel beschrieb den Staatsgedanken der Westfalen mit den Worten:

Die Länder Westfalens haben in ihrer Gesamtheit keinen Staat gebildet. Einen Herzog, der über alle gebieten könnte, haben sie abgelehnt, und allen Versuchen der Kölner Erzbischöfe nach dieser Richtung hin sind sie mit der Waffe entgegengetreten. Was sich hier in seiner klaren politischen Ausprägung manifestiert, ist der Staatsgedanke der Westfalen.

Dieser Staat der Westfalen ist weder sichtbar noch greifbar, kein Gebilde, von dem bestimmte und zwingende Machtäußerungen ausgehen können. In seiner Umgreifung “regiert” er, dem einzelnen soll er vom Leibe bleiben. Er soll wenig verwalten und so wenig herrschen wie möglich, mit einem Wort: Er soll nicht Selbstzweck werden. Die Freiheit des einzelnen soll von ihm unangetastet bleiben. (in: Die Westfalen. Volk, Geschichte, Kultur)

Kling irgendwie modern. Durch die Zeilen spricht die angelsächsische Staatstheorie.

Das wohl interessanteste “Staatsexperiment”, das unter dem Namen Westfalen durchgeführt wurde, war das von Napoleon errichtete, künstliche Gebilde des “Königreich Westphalen“, das von seinem Bruder Jérôme Bonparte, der auch den Beinamen “König Lustik” trug, regiert wurde. Sitz des Königreichs war die nordhessische Metropole Kassel. Auch sonst war der westfälische Anteil am Königreich Westfalen recht überschaubar.

Nicht ganz zu Unrecht bezeichnet Helmut Berding das Königreich Westphalen als den ersten modernen Staat auf deutschem Boden. Berding schreibt u.a.

Dennoch und ganz anders, als das alberne Klischee vom Reich des Königs Lustig es will: Nirgendwo sonst im napoleonischen Deutschland prägten die Prinzipien von Rationalität und Effektivität so konsequent das Regierungs- und Verwaltungssystem wie hier. Nirgendwo sonst zog eine geschriebene Verfassung mit einem beachtlichen Katalog von Menschenrechten eine so klare Trennungslinie zur ständischen Gesellschaftsordnung, beseitigte die Judenemanzipation so vorbehaltlos die überlieferten Diskriminierungen. Allerdings klafften auch nirgendwo sonst Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie in diesem Modell- und Satellitenstaat.

Ähnlich Gedanken formuliert auch Claus Peter Müller in Das Reich mit “König Lustik”.

Im Jahr 2008 widmete sich die Ausstellung “König Lustik” der kurzen Geschichte des Königreichs Westphalens.

Nachdem die Preußen im Jahr 1815 die Kontrolle über Westfalen erhielten und die Region zu einer politischen Einheit formten, wurden viele der auch heute noch als modern geltenden Staatsregeln wieder zurückgenommen und der alte Ständestaat fast vollständig wieder hergestellt.

So gesehen hinterlässt der 200jährige Geburtstag Westfalen einen zwiespältigen Eindruck.

Die Frage der Staatsauffassung der Westfalen kann daher nicht alleine auf die vergangenen zweihundert Jahre reduziert werden. Sie reicht weiter zurück und liefert einige überraschende und moderne Einsichten und Fakten.

Weitere Informationen:

König Lustik. Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen

Westfälisches Demokratie- und Staatsverständnis, oder: Was macht die Westfälische Identität aus?

Westfälische Staatsmänner und Diplomaten

Westfälische Staats- und Gesellschaftstheoretiker

Westfalenparlament

Westfälisches Staatensystem

Der sächsische Landtag zu Marklo – das erste Parlament der Geschichte?

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