Von Ralf Keuper

Am Anfang des 19. Jahrhunderts war Bielefeld (5.600 Einwohner) ein kleines Dorf. Die größten Städte jener Zeit in Westfalen waren Münster (ca. 20.000 Einwohner) und  – man staune – Minden (ca. 8.000). Selbst Dortmund, die heute mit weitem Abstand größte Stadt Westfalens, hatte um 1800 nur 4.500 Einwohner. Gütersloh, das heute 1o0.000 Einwohner zählt, war nicht mehr als ein Heidedorf (1.800 Einwohner).

Der Aufstieg Bielefelds zu einer der größten Städte Westfalens (hinter Dortmund und Bochum auf Platz 3) und Deutschlands (Platz 18) setzte mit der Industrialisierung ein. Eng damit verbunden ist die Ravensberger Spinnerei. Reinhard Vogelsang beschreibt in seinem Buch Die Geschichte der Stadt Bielefeld. Band II. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges die bislang stürmischste Zeit in der Geschichte Bielefelds.

Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt war schon damals von einem Branchenmix geprägt, der die Stadt – im Gegensatz zum Ruhrgebiet – nicht so anfällig für Konjunkturschwankungen machte:

Es ist nicht zu übersehen, dass der Entwicklung der Bielefelder Industrie eine innere Logik zugrunde gelegen hat. Anders als etwa im Ruhrgebiet, dessen Industrialisierung vom Bergbau und der Schwerindustrie ausgegangen ist, machte hier die Textilindustrie, auf der Basis des heimischen Leinengewerbes, den Vorreiter im Übergang zum Fabriksystem. Mit den Textilbetrieben entstand zugleich eine erhebliche Nachrage nach Produkten von Zulieferern, und davon profitierten nicht nur die in handwerklichen Formen arbeitenden Bauunternehmen, sondern auch die mechanischen Werkstätten und Gießereien, aus denen wiederum größere Fabriken hervorgingen.

Das Textilgewerbe brachte andererseits große Mengen von Geweben – Leinen, Seide, Plüsch – auf den Markt, so dass eine Weiterverarbeitung am Ort lohnend erscheinen musste. Die Wäschefabrikation erzeugte einen hohen Bedarf an Nähmaschinen, und auch sie wurden in immer größeren Stückzahlen in Bielefelder Unternehmen hergestellt. Dieselben Firmen begannen in den 80er Jahren damit, Fahrräder zu produzieren; es entstand hierfür ein neuer Markt, weil mit dem Fabriksystem die Trennung von Wohnung und Arbeitsstätte erforderlich geworden war und weil wegen der größeren Ausdehnung der Stadt – und anderer Städte – die täglichen Wege weiter wurden. Da öffentliche Verkehrsmittel noch fehlten, bot das Fahrrad gewissen Ersatz.

Die Stadtentwicklung konnte mit dem rasanten Wachstum Bielefelds kaum Schritt halten. Die Planung ging eher situativ, pragmatisch vor, d.h. man versuchte, die beste Lösung zu finden, ohne das Große Ganze im Blick zu haben.

Vogelsang schreibt:

Der Entwicklung Bielefelds zur Industriestadt lag anfangs kein durchdachter Plan zugrunde. Dennoch gehorchten die baulichen Veränderungen einer gewissen inneren Logik.

Relativ schnell bildeten sich in der Stadt informelle Zirkel, in denen die führenden Industriellen Bielefelds sich zusammenfanden. Der bekannteste dieser Art war die sog. Ressource.

Die Industrialisierung Bielefelds war um die Mitte des 19. Jahrhunderts von Mitgliedern der traditionsreichen Kaufmannsfamilien eingeleitet worden. Dei Bertelsmann, Consbruch, Delius, Heidsieck, Kisker, König, Niemann, Rabe, Tiemann und Wittgenstein bildeten, untereinander vielfach verwandt und verschwägert, den Kern der städtischen Oberschicht. Ihre Namen finden sich den Listen der Verwaltungs- und Aufsichtsräte der Spinnerei Vorwärts, der Ravensberger Spinnerei und der Mechanischen Weberei, in den Firmenverzeichnissen der zur Textilbranche gehörenden Handelshäuser und Fabrikunternehmen, unter den führenden Mitgliedern der Gesellschaft “Ressource”, in den Protokollen der Stadtverordnetenversammlung und in den Berichten der Handelskammer.

Die Gesellschaft “Ressource” besteht noch heute. In diesem Jahr feiert sie ihren 222. Geburtstag, worüber die Neue Westfälische in In diesem Bielefelder Club sind nur Männer zugelassen berichtet.

Die Mittelschicht versammelte sich in Schützengesellschaften und Gesangvereinen.

Die Beziehung von Kaiser Wilhelm II zu Bielefeld war eine besondere, wohnte doch sein Erzieher, Georg Ernst Hinzpeter, bis zu seinem Lebensende in der Stadt. Jedesmal, wenn Kaiser Wilhelm II in der Stadt weilte, besuchte er seinen strengen Lehrer. Auch an seinem Begräbnis im Jahr 1907 nahm der Kaiser persönlich teil.

Die mit der Industrialisierung sich verschärfenden Gegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bzw. Gewerkschaften traten auch in Bielefeld zum Vorschein. Seine erste Sporen als späterer Spitzenpolitiker verdiente sich dabei der aus Herford stammende Carl Severing, der in Bielefeld als Gewerkschafter tätig war und dabei u.a. mit Nikolaus Dürkopp aneinander geriet.

Das Buch endet mit dem 1. Weltkrieg, der auch in Bielefeld tiefe Spuren hinterließ. Bereits im Jahr 1915 war die Versorgungslage so angespannt, dass die Stadtoberen sich genötigt sahen, die Bevölkerung zum Maßhalten und zur Eigenversorgung anzuhalten:

Seit Kriegsbeginn bemühte sich der Magistrat, einerseits die Bevölkerung zur Selbsthilfe anzuhalten und andererseits durch eigenen Anbau Lebensmittel zu erzeugen. Auf städtischem Grund wurde in den Heeper Fichten Gemüse angebaut, ebenso auf Bökenkamps Hof in Hoberge und 1915 in Heepen auf dem Rieselgut.

Dennoch:

Alle Bemühungen zusammen mögen die Notlage gemildert un den Hunger zurückgedrängt haben. Dem Hauptproblem, der Sicherstellung der Grundnahrungsmittel, war jedoch nicht beizukommen. Deshalb blieb während der gesamten Kriegszeit der Mangel an Kartoffeln ein Dauerthema.

Mit dem Kriegsverlauf ließ die Zustimmung der Bevölkerung spürbar nach; auch in den Zeitungen, wie in der “Volkswacht”.

Allmählich ging die Zeitung aber doch auf Distanz zur allgemeinen Kriegsbegeisterung. Nicht ohne Ironie berichtete sie über den Schützengraben, den man auf der Ochsenheide in möglichster Originaltreue zur Unterrichtung der Bevölkerung angelegt hatte und für dessen scheinbare Eroberung eigens ein Angriff mit Platzpatronen veranstaltet wurde. Ganz Schulklassen mussten dort antreten, um den “Krieg” mitzuerleben.

Die letzte Phase des Kriegs verlief in Bielefeld ohne größere Spannungen:

Trotz der zunehmenden Schärfe der politischen und sozialen Auseinandersetzungen ist es in Bielefeld – mit einer Ausnahme – nicht zu Streiks gekommen. … Auch die Revolution hatte ihre spezielle Bielefelder Variante. In einer Versammlung in der Centralhalle wurde einstimmig ein Volks- und Soldatenrat gewählt. Zu seinen vordringlichen Pflichten gehörte es, “für Ruhe, Ordnung und Sicherheit zu sorgen”.

Von Rolevinck

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