Ungefähr 300 Zechen förderten bereits um das Jahr 1850 große Mengen an Kohle, die in den zahlreichen Kokereien zu Koks weiterverarbeitet wurde. Das entstehende Kokereigas diente zunächst lediglich als Energiequelle im Produktionsprozess. Im Laufe der Jahrzehnte wurden technologische Verfahren entwickelt, die es ermöglichten, dass das Kokereigas auch für die Gewinnung von Zwischenprodukten genutzt werden konnte. Von bestimmten Bestandteilen gereinigt, konnte es jetzt zu chemischen Nebenprodukten wie Ammoniak und Steinkohlenteer verarbeitet werden. 1887 gelang es Albert Hüssener in Gelsenkirchen, Benzol durch Auswaschen des Koksgases zu gewinnen. Und 1913 ließ Friedrich Bergius ein Verfahren zur Kohlehydrierung patentieren, bei dem durch Verflüssigung von Steinkohle Benzin gewonnen werden konnte.

Von der Kohlewertstoffchemie zur Spezialchemie

Der Reichtum an verschiedenen Kohlesorten ließ im Ruhrgebiet eine Kohlenwertstoffindustrie entstehen, die sich auf die Verarbeitung bestimmter Stoffe spezialisierte: Teerprodukte z.B. in den Rütgerswerken in Castrop-Rauxel und Duisburg, Phenole z.B. in der ehemaligen Hibernia Bergwerksgesellschaft in Gladbeck, heute INEOS Phenol GmbH, Benzin z.B. im ehemaligen Hydrierwerk Scholven in Gelsenkirchen, heute Ruhr Oel GmbH, Pigmente z.B. bei Sachtleben in Duisburg oder Zinkfarben z.B. in den Grillo-Werken in Duisburg.

Durch vielfältige Innovationen im Bereich der chemischen Verarbeitung wurde die Produktpalette stetig erweitert. Im Jahr 1928 wurde in Oberhausen ein Werk der Ruhrchemie AG gegründet, das Düngemittel, später Benzin, Katalysatoren und Polymere produzierte. Im Jahr 1938 erfolgte in Marl der Aufbau eines Buna-Werkes zur Herstellung von synthetischem Kautschuk. Durch die günstige Lage am Wesel-Datteln-Kanal und die Nähe zu Kokereien und Hydrierwerken, die sowohl Lieferant als auch Abnehmer von Produkten waren, entwickelten sich die Chemischen Werke Hüls in Marl nach dem Zweiten Weltkrieg zum drittgrößten Chemiestandort in Deutschland. Durch die stetige Substitution von Kohle durch Erdöl konnten im Chemiewerk später weitere vielfältige Produkte der Grundstoffchemie und der Spezialchemie erzeugt werden: Tenside, Polyvinylchlorid, Lackrohstoffe, Polystyrol oder Weichmacher.

Quelle: Historische Entwicklung der Chemischen Industrie im Ruhrgebiet

Die Geschichte der in dem Beitrag erwähnten Chemischen Werke Hüls in Marl ist in den letzten Jahrzehnten intensiv erforscht und dokumentiert worden, wie in HÜLS  – Chemie im Revier  und  Chemie und Politik. Die Geschichte der Chemischen Werke Hüls 1938 bis 1979. Eine Studie zum Problem der Corporate Governance.  In  seiner Rezension zu dem letztgenannten Buch schreibt Jochen Streb:

Ansicht des Werksgeländes der Hüls AG von Süden, Quelle: Wikipedia

Schon während des ‘Dritten Reichs’, aber insbesondere während der langwierigen Entflechtungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen die Großaktionäre, das waren BASF, Bayer, Hoechst und das Bergbauunternehmen Hibernia, durchaus eine ambivalente Haltung gegenüber den Unternehmenserfolgen von Hüls ein, da sie befürchteten, dass sich dieses Unternehmen entweder zu einem eigenständigen Konkurrenten für ihre anderen Betriebe entwickeln oder aber den jeweils anderen Anteilseignern zu einem Wettbewerbsvorsprung verhelfen würde. Im ‘Dritten Reich’ war Hüls als reine Produktionsstätte für den zur Kriegsführung benötigten Synthesekautschuk Buna konzipiert worden. In der Nachkriegsphase verbreiterte man jedoch das Produktionsprogramm und erzeugte neben dem zunächst von den Alliierten verbotenen Synthesekautschuk auch Kunststoffe, Lackrohstoffe, Lösungsmittel sowie Waschrohstoffe – alles Produkte, die auch von den anderen I.G.-Nachfolgeunternehmen hergestellt wurden. …

In der unsicheren Nachkriegssituation bemühten sich die Manager von Hüls wiederholt um eine weit reichende finanzielle Unterstützung der Wiederaufnahme der Synthesekautschukproduktion durch ihren traditionellen Stakeholder Staat, dessen Subventionen im Rahmen der nationalsozialistischen Autarkiebestrebungen die Gründung von Hüls ja erst möglich gemacht hatten. Die Bundesregierung verweigerte sich diesem Ansinnen jedoch standhaft. Die Manager von Hüls mussten lernen, dass die im ‘Dritten Reich’ eingeübte Strategie, unternehmerische Risiken auf den Staat abzuwälzen, nicht mehr funktionierte.

Von Rolevinck

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