Von Ralf Keuper

Gegenstand des Vortrags Wie modern war Westfalens Wirtschaft im Jahr 1800? Der regionale Pfad der Industrialisierung, den Wilfried Reininghaus auf Einladung der Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte gestern, am 03.02.2016, in Dortmund gehalten hat, waren, wie der Titel schon aussagt, der Stand der Industrialisierung in Westfalen um 1800 sowie die weitere Entwicklung bis zum Jahr 1850.

Um den Zuhörern ein möglichst realitätsnahes Bild der wirtschaftlichen Situation jener Zeit zu vermitteln, wählte Reininghaus einen fiktiven Dialog, der sich in der Sylvesterfeier 1799 in Iserlohn abspielte. Bei den Gesprächspartnern handelt es sich um die drei Iserlohner Kaufleute

Um das Jahr 1800 war Iserlohn die mit Abstand wichtigste Handels- und Industriestadt Westfalens, weshalb es Sinn ergibt, die Wirtschaftsgeschichte der Stadt als Ausgangspunkt für die Untersuchung zu wählen. Der Beginn des neuen Jahrhunderts eröffnete tatkräftigen Kaufleuten, wie Müllensiefen, Schmidt und von Scheibler, zahlreiche Gelegenheiten, wie sie Jahrzehnte zuvor noch undenkbar waren. Neben technologischen Neuerungen waren es institutionelle Faktoren, die mit dazu beitrugen, die Wirtschaft in die Phase der Industrialisierung eintreten zu lassen, wie z.B. der Friede von Basel. Auf technologischen Gebiet war die Inbetriebnahme der ersten Dampfmaschine in Westfalen im Jahr 1799 auf der Saline Königsborn bei Unna ein wichtiges Ereignis der westfälischen Wirtschaftsgeschichte.

Dennoch dauerte es noch einige Jahrzehnte, bis die Industrialisierung in Westfalen zum endgültigen Durchbruch gelangte. Als Erklärung dafür bietet sich der Rückgriff auf das Konzept der Pfadabhängigkeit an, das von hemmenden und fördernden Faktoren beim Übergang einer Wirtschaftsstruktur in eine andere spricht. So lässt sich beobachten, dass viele Betriebe im märkischen Sauerland mit den althergebrachten Verfahren produzierten, d.h. die Dampfmaschine kam nur in bestimmten Betrieben, z.B. im Bergbau, zum Einsatz. Auch die Eisenbahn sollte erst mit der Köln-Mindener und der Bergisch-Märkischen Eisenbahn der Entwicklung neuen Schwung verleihen. Die preußische Regierung, und hier vor allem in Person des Freiherrn vom Stein und Ludwig von Vinckes, sorgte mit dem Bau von Chausseen und Kanälen für eine Infrastruktur, die an die Notwendigkeiten einer modernen Wirtschaft angepasst war. Nicht selten werden für die z.T. abwartende Haltung der Kaufleute und Fabrikanten im märkischen Sauerland mentale Faktoren, wie Risikoscheu und eine konservative Grundhaltung, verantwortlich gemacht. Die Kaufleute und Fabrikanten von Iserlohn unterhielten auch mit dem Ausland intensive Geschäftsbeziehungen, wie mit Frankreich, den Niederlanden und England. Westfalen war lange Zeit so etwas wie das natürliche Hinterland der Niederlande, über deren Handels- und Finanzzentren die Transaktionen (logistisch) abgewickelt wurden. Nach Übersee zog es die märkischen Kaufleute bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dagegen kaum.

Ein Unternehmer, der technologischen Neuerungen ausgesprochen offen gegenüber stand, war Friedrich Harkort. Er war jedoch seiner Zeit zu weit voraus, um als Unternehmer dauerhaft Erfolg haben zu können. Daneben war Harkort eine treibende Kraft bei der Einführung der Eisenbahn in Westfalen wie der Köln-Mindener Bahn und der Bergisch-Märkischen Eisenbahn. Von Harkort stammt auch die Schrift Die Eisenbahn von Minden nach Cöln. Dabei handelt es sich um die erste Schrift dieser Art in Deutschland. Geschäftlich erfolgreicher war dagegen die Familie von Romberg, worüber Reininghaus in Das wirtschaftliche Handeln der Familie von Romberg im 17. bis 20. Jahrhundert berichtet.

Reininghaus vertritt den Standpunkt, dass das märkische Sauerland mit seinem Schwerpunkt Iserlohn das Gravitationszentrum der westfälischen Wirtschaft um das Jahr 1800 und auch noch Jahre danach war. Gemessen an der Zahl der Handelshäuser und Fabriken lag Iserlohn damals weit vor Münster, Bielefeld und Dortmund.

Diese These jedoch stieß bei der anschließenden Diskussion im Publikum auf Kritik. So äußerte Karl-Peter Ellerbrock Zweifel,  ob es bei der Verschiedenartigkeit der westfälischen Regionen, was die Wirtschaftsstruktur anbelangt, überhaupt von einem Gravitationszentrum gesprochen werden kann. Dieser Befund gelte eigentlich noch heute. Ebenso sei fraglich, ob die Agrarrevolution, die für die Industrierevolution in Westfalen wirklich von so großer Bedeutung war, wie Reininghaus meint.

Die Kritik scheint mir berechtigt, und zwar insofern, als dass im Raum Bielefeld bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Leinenwirtschaft schon weit fortgeschritten war und der Export bereits eine wichtige Rolle spielte. Zudem wurde eine der ersten Aktiengesellschaften Westfalens im Jahr 1768 in Bielefeld gegründet. (Vgl. dazu: Die Geschichte der Bielefelder Leinenindustrie). Reininghaus liegt m.E. insofern richtig, als dass die Region um Iserlohn, Hagen und Dortmund Arbeitskräfte aus den umliegenden Regionen in einem Umfang angezogen hat, wie das in den anderen westfälischen Gebieten für diese Zeit nicht belegt ist.

Was können wir für wir daraus für die heutige Zeit lernen? Wo steht die westfälische Wirtschaft heute? Die Großindustrie hat sich weitestgehend aus Westfalen, genauer: dem Ruhrgebiet entfernt, stattdessen dominieren in Westfalen mittelständische, familiengeführte Unternehmen, die schon mal mehre Milliarden Umsatz im Jahr machen können. Die Regionen Ostwestfalen-Lippe und Südwestfalen zählen zu den Regionen in Deutschland mit der höchsten Anzahl von Weltmarktführern und sog. Hidden Champions. Das Münsterland glänzt mit der geringsten Arbeitslosenquote in NRW. Daneben ist auch hier der Mittelstand für die Wirtschaftsstrutkur prägend.

Was die Infrastruktur betrifft, ist Westfalen an sich gut aufgestellt: Genannt seien die zahlreichen Universitäten, die Flughäfen Münster, Dortmund und Paderborn sowie – mit Ausnahme des Siegerlandes – die Anbindung an die Autobahnen (die A33 wird hoffentlich vollendet). Dortmund und Hamm haben sich zu den führenden Logistikstandorten in Nordrhein-Westfalen entwickelt. Weniger positiv fällt der Befund in Sachen Breitbandausbau aus. Wenn die Handelsrouten sich heute ins Internet verlagert haben, wäre es eigentlich interessant zu wissen, wie es um die Internetgeografie Westfalens eigentlich bestellt ist. Derzeit befindet sich nur ein Internetknoten Deutschlands in Westfalen, und zwar NDIX in Münster.

Weiterhin wäre eine Bestandsaufnahme des Startup-Ökosystems Westfalens nicht ganz uninteressant, da es sich allem Anschein nach um einen neuen Modus des Wirtschaftens handelt. Inwieweit kann die Zeit der westfälischen Wirtschaft um 1800 hierbei Wegweiser sein? Welches sind heute die hemmenden und fördernden Faktoren beim Übergang der westfälischen Wirtschaft in die Digitalmoderne (Industrie 4.0, Internet of Things)?

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