Von Ralf Keuper
Die Industrialisierung in Westfalen lässt sich neben dem Bergbau auch am Beispiel der Textilindustrie gut veranschaulichen. Ein Schwerpunkt der gewerblichen Textilherstellung im 19. Jahrhundert in Westfalen wie überhaupt in Deutschland war Bielefeld.
Dort und im umliegenden Ravensberger Land hatten sich die Bewohner schon früh auf die Flachsverarbeitung spezialisiert, die lange Zeit fast ausnahmslos in bäuerlicher Hausarbeit erfolgte. Karl Kisker berichtet in seinem Beitrag Die Bielefelder Leinenindustrie aus dem Jahr 1926 davon, dass die aus der Verarbeitung von Flachs gewonnenen Garne schon im 16. Jahrhundert bei niederländischen Kaufleuten auf rege Nachfrage stießen.
Bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein produzierten die ravensbergischen Spinnereien in beachtlichem Umfang für den Export. In den Jahren 1787/88 war der Westfälische Kreis, zu dem auch das Ravensberger Land mit Bielefeld gehörte, der drittgrößte Exporteur von Leinen in Deutschland. Eine wichtige Funktion in der Leinenherstellung hatten die Bleichanlagen. Lange Zeit hatte Bielefeld keine eigene Anlage. Das Leinen wurde zum Bleichen u.a. nach Warendorf transportiert. Im Jahr 1719 entschlossen sich mehrere Bielefelder Kaufleute, diesen Mangel zu beheben, indem sie mit dem Freiherrn von der Horst einen Vertrag zum Bau einer Bleiche auf dessen Gut Milse abschlossen. Der entscheidende Schritt erfolgte jedoch erst im Jahr 1768 mit der Gründung einer der ersten Aktiengesellschaften Westfalens, mit dem Zweck, eine Bleicherei nach holländischem Verfahren zu betreiben.
Große Bedeutung für den Durchbruch der Leinenherstellung in Westfalen hatte die Errichtung einer Anstalt, die für die Qualitätskontrolle des Leinens zuständig war – die Legge.
Das vorwiegend handwerklich organisierte Leinengewerbe in und um Bielefeld geriet gegen Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch in eine tiefe Krise. Im Mutterland der Industrialisierung, in England, aber auch in Irland, entstanden um diese Zeit die ersten mechanischen Spinnereien, die eine industrielle Herstellung des Garns ermöglichten. Der Export der Bielefelder Leinenkaufleute kam dadurch fast vollständig zum Erliegen. In Bielefeld reagierte man auf diese Entwicklung mit der Gründung einer eigenen mechanischen Spinnerei im Jahr 1850. Einige Kaufleute um die Brüder Carl und Theodor Bozi hoben die mechanische Spinnerei „Vorwärts“, die als Aktiengesellschaft firmierte, aus der Taufe. Nur einige Jahre später erfolgte auf Initiative von Hermann Delius die Gründung der zweiten mechanischen Spinnerei in Bielefeld, der Ravensberger Spinnerei.
Noch heute residieren in und um Bielefeld einige namhafte Unternehmen der Textilindustrie in Deutschland wie Gerry Weber, Seidensticker, Ahlers, Bugatti, Delius und JAB Anstoetz.
Weltweite Bedeutung erlangte die Bielefelder Textilindustrie, wenngleich indirekt, durch Max Weber und seine Forschungen zum Einfluss der Protestantischen Ethik auf den Kapitalismus. Darin diente u.a. sein Onkel Carl David Weber, Textilunternehmer in Bielefeld und Oerlinghausen, wie überhaupt die entstehende Textilindustrie im Bielefelder Raum als Vorlage.
Weitere Informationen / Quellen:
Geschichte der Ravensberger Spinnerei
Westfälische Textilunternehmer in der Industrialisierung
Die Geschichte der Industrialisierung in Bielefeld: Das Leinengewerbe
Das Leinengewerbe in Bielefeld vor der Industrialisierung
Die Tödden aus dem nördlichen Münsterland
Die stolzen Weber aus Bielefeld und Oerlinghausen