Von karolingischen Kaiserpfalzen bis zu modernen Designmanufakturen: Westfalen blickt auf eine über tausendjährige Tradition der Glasherstellung zurück. In dieser Region verbinden sich Handwerkskunst, industrielle Innovation und sakrale Meisterwerke zu einem faszinierenden Mosaik, das die besondere Beziehung zwischen einem der ältesten Werkstoffe der Menschheit und seiner spirituellen wie praktischen Bedeutung offenbart.
Durchscheinende Geschichte
Glas ist mehr als ein Material. Es ist Licht, das Form annimmt, Transparenz, die Schutz bietet, Zerbrechlichkeit, die Kostbarkeit bedeutet. Als einer der ältesten Werkstoffe der Menschheit trägt Glas eine Bedeutungsschicht, die weit über seinen Gebrauchswert hinausreicht. Wenn Licht durch die bunten Fenster mittelalterlicher Kirchen strömt und den Innenraum in ein überirdisches Leuchten taucht, wird Glas zum Medium zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen – ein Versprechen auf das Reich Gottes, materialisiert in Sand, Hitze und menschlichem Können.
Diese besondere Aura des Glases, seine Fähigkeit, zugleich profan und sakral zu sein, Alltagsgegenstand und Kunstobjekt, hat in Westfalen eine lange Tradition. Die Geschichte dieser Beziehung beginnt überraschend früh und reicht bis in die Gegenwart.
Wurzeln tiefer als gedacht
Die Geschichte der Glasherstellung in Westfalen muss möglicherweise neu geschrieben werden. Archäologen haben bei Bodenfelde Überreste entdeckt, die auf eine der ältesten Glashütten Europas hinweisen. Die Funde belegen, dass bereits im Frühmittelalter Glasproduktion in größerem Umfang betrieben wurde – ein bedeutender Beleg für frühe Werkstofftechnik und Handelsverbindungen im Weserraum.
Gesichert ist die Existenz einer Glaswerkstatt im letzten Viertel des 8. Jahrhunderts in der Karolingischen Kaiserpfalz zu Paderborn. Diese frühe Bezeugung zeigt, dass das Handwerk bereits praktiziert wurde, als die Region gerade erst christianisiert wurde und sich die Grundlagen der mittelalterlichen Kultur formten.
Der Waldreichtum Westfalens erwies sich als ideale Voraussetzung für die energieintensive Glasproduktion. Vom Mittelalter bis etwa 1750 entstanden in den Regionen Paderborn, im Weserbergland und in Lippe rund fünfzig Glashütten. Die Wälder lieferten das Holz für die Schmelzöfen, die sandführenden Böden das Rohmaterial, und die Handwerker entwickelten über Jahrhunderte ihre Fertigkeiten weiter.
Die Ausstellung „Von Glut zum Glase“ in Haßlinghausen feierte diese Kontinuität: Fast zwei Jahrhunderte Glasmachertradition werden hier sichtbar gemacht. Werkzeuge, Glasformen und Werkstücke aus Familienbetrieben erzählen vom Wandel einer Branche, die zwischen Handarbeit und Industrialisierung ihre Identität suchte und fand.
Industrielle Blüte und Innovation
Die Tradition ist nicht abgerissen. Noch heute ist die Gegend um Bad Driburg ein bedeutender Standort der Glasherstellung. Unternehmen wie Leonardo, das mit seinen Designartikeln den gehobenen Bedarf anspricht, oder Ritzenhoff & Breker mit rund 4.500 Produkten aus Glas und Keramik im Sortiment zeigen, wie sich handwerkliches Erbe und zeitgenössisches Design verbinden lassen. Es ist daher nur konsequent, dass Bad Driburg auch ein Glasmuseum beherbergt – eine Institution, die räumlich wie thematisch am richtigen Ort liegt.
Unweit davon, in Marsberg, residiert die Ritzenhoff AG, einer der führenden deutschen Hersteller von Trinkgläsern und Geschenkartikeln. Die Verbindung zur Geburtsregion eines anderen Glaspioniers ist dabei durchaus symbolträchtig: Otto Schott, 1851 in Witten geboren, gilt als Begründer der wissenschaftlichen Glastechnologie. Sein Name lebt fort in der Schott AG in Mainz, einem der weltgrößten Produzenten von Gläsern und Glasartikeln. Eine aktuelle Ausstellung in seinem Geburtsort Witten würdigt sein Leben und sein Vermächtnis – ein Westfale, der die Glasindustrie revolutionierte.
Auch in Gelsenkirchen hat mit Pilkington Glas Deutschland ein Traditionsunternehmen seinen Sitz. Das ursprünglich britische Unternehmen, heute im Besitz von Nippon Sheet Glass, gilt als Erfinder des Floatglass-Verfahrens – jenes Prozesses, der die Herstellung großflächiger, planer Glasscheiben ermöglicht und damit die moderne Architektur überhaupt erst möglich machte.
Pilgerstätten des Glases
Wer die Geschichte und Gegenwart der westfälischen Glaskultur erkunden möchte, findet in der Region mehrere bedeutende Anlaufstellen. Das LWL-Industriemuseum in Gernheim bei Petershagen im Kreis Minden-Lübbecke bietet Einblicke in die industrielle Fertigung und die Arbeitsbedingungen der Glasmacher. Hier wird Geschichte nicht nur ausgestellt, sondern erfahrbar gemacht.
Glas als Kunstobjekt und Sammlerleidenschaft hat in Westfalen ebenfalls eine lebendige Tradition. Die Familie Ernsting in Coesfeld hat über Jahre eine beeindruckende Sammlung zusammengetragen und mit dem Alten Hof Herding einen architektonischen Rahmen geschaffen, der die Objekte angemessen würdigt – ein kleiner Kunsttempel der stillen Kontemplation.
Die Glas- und Keramiksammlung Nachtmann in Paderborn verfolgt ein anderes Ziel: Sie macht einen Teil des verloren gegangenen Inventars der fürstbischöflichen Residenz Neuhaus wieder sichtbar und führt damit historische Fäden zusammen, die durch Krieg und Zerstreuung zerrissen schienen.
Einen unkonventionellen Weg beschreitet das Skulpturenmuseum Glaskasten Marl. Hier wird Glas selbst zum Ausstellungsraum, zur transparenten Hülle, die Kunst und Umwelt in einen Dialog treten lässt.
Künstlerische Positionen: Licht als Sprache
Die westfälische Glaskunst der Gegenwart steht in einer lebendigen Tradition, die sich immer wieder neu erfindet. Namen wie Jupp Gesing prägen über Jahrzehnte das Gesicht sakraler Räume. Seine Entwürfe für Kirchenfenster und Glasmosaike verbanden kräftige Farbigkeit mit erzählerischer Tiefe – Glas als Medium menschlicher Erfahrung, durchscheinend und verletzlich, und zugleich von bleibender Schönheit.
Anders Jochem Poensgen, der zu den bedeutendsten Glasgestaltern der Gegenwart zählt. Seine Arbeiten, oft in Sakralräumen zu finden, spielen mit Licht, Farbe und Raumwirkung in einer Weise, die spirituelle Konzentration mit geometrischer Strenge vereint. Bei Poensgen wird Glas zum Medium des Übergangs zwischen Licht und Materie – reduziert, präzise, kontemplativ.
Alfred Wiese wiederum steht für klare Linien und farblich zurückhaltende Kompositionen. Seine Arbeiten zeigen, wie experimentell die Glasmalerei der Nachkriegszeit wurde: Zwischen Baukunst und Bildgestaltung suchte Wiese nach einer neuen Sprache des Lichts, die sich vom Pathos der Vergangenheit gelöst hatte.
Die Künstlerin Ehrentrud Trost verbindet in ihren Glasobjekten handwerkliche Tradition mit moderner Formensprache. In ihren Werken verschmelzen Präzision und Poesie, oft inspiriert von Naturmotiven. Ihr Schaffen steht exemplarisch für den Anspruch deutscher Glaskunst, zwischen technischer Perfektion und spiritueller Aussage zu vermitteln.
Bewahrer des Handwerks
Dass diese Tradition nicht abreißt, ist auch das Verdienst jener, die sich der Pflege und Weitergabe des Wissens verschrieben haben. Wilhelm Peters, langjähriger Leiter der traditionsreichen Glasmalerei Peters in Paderborn und Kulturpreisträger, betont im Interview die Bedeutung des Handwerks als lebendige Kunstform. Er spricht über den Erhalt alter Techniken und die Herausforderungen moderner Aufträge – über die Verantwortung, historische Fenster mit zeitgenössischer Sensibilität zu restaurieren, ohne ihre Seele zu verraten.
Diese Expertise wird auch international geschätzt. In Borchen arbeitete ein Team spezialisierter Glasrestauratoren an den wertvollen Fenstern der Pariser Kathedrale Notre-Dame. Mit akribischer Präzision wurden Fragmente gesichert und behutsam wiederhergestellt, bevor sie nach Paris zurückkehrten. Diese internationale Kooperation zeigt, wie hoch die deutsche Restaurationskunst weltweit geschätzt wird.
Institutionen wie die Stiftung Forschungsstelle der Glasmalerei des 20. Jahrhunderts sorgen dafür, dass das Wissen um diese besondere Kunstform dokumentiert, erforscht und bewahrt wird. Sie schlagen die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Handwerk und Wissenschaft.
Sakrale Synthese
Doch wer erleben möchte, wie sich Glaskunst und Spiritualität auf vollkommene Weise vereinen lassen, kommt an einem Ort nicht vorbei: dem Mindener Dom. Hier, wo mittelalterliche Architektur auf die Lichtführung moderner Glasfenster trifft, offenbart sich die ursprüngliche Bestimmung des Materials in seiner ganzen Kraft. Das Licht, das durch farbiges Glas fällt, verwandelt den Kirchenraum nicht nur optisch – es lädt ihn spirituell auf, schafft eine Atmosphäre, in der die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits durchlässig erscheint.
Transparente Zukunft
Die westfälische Glasgeschichte ist eine Geschichte der Kontinuität und der Transformation. Von den frühmittelalterlichen Werkstätten bei Bodenfelde über die karolingische Pfalz in Paderborn bis zu den modernen Produktionsstätten und Museen der Gegenwart zeigt sich eine Region, die ihrem Material treu geblieben ist, ohne stillzustehen.
Glas bleibt, was es immer war: ein Stoff der Übergänge, der Durchblicke, der Verwandlungen. In Westfalen hat dieser Werkstoff eine Heimat gefunden, die seine verschiedenen Dimensionen – die praktische, die künstlerische, die sakrale – gleichermaßen würdigt und pflegt. Von den Familienbetrieben in Haßlinghausen bis zu den internationalen Aufträgen der Restauratoren, von den Designobjekten bei Leonardo bis zu den spirituellen Fenstern Jochem Poensgens spannt sich ein Bogen, der zeigt: Glas ist in Westfalen nicht nur Handwerk oder Industrie, sondern gelebte Kultur.
Wer heute durch Westfalen reist und die Augen offen hält, begegnet diesem Material auf Schritt und Tritt: in den Fenstern alter Kirchen, in den Vitrinen der Museen, in den Produktionshallen moderner Manufakturen, in den Ateliers der Künstler. Überall erzählt es von menschlichem Erfindungsreichtum, von der Sehnsucht nach Schönheit und von jenem besonderen Zauber, der entsteht, wenn Licht auf durchscheinendes Material trifft und für einen Moment die Welt verwandelt.