Von Ralf Keuper

Im Jahr 1966 erschien unter der Herausgeberschaft von Carl Amery das Buch Provinz. Kritik einer Lebensform. Darin setzten sich 18 Schriftsteller mit dem Begriff >>Provinz<< und seinem Bedeutungswandel auseinander. Zwei Autoren, Erwin Sylvanus und Heinrich Vormweg, behandeln dabei in Alltags sind die Straßen leer und in Gottes eigenes Geld explizit die westfälische Provinz.

Slyvanus schildert seine Erlebnisse in dem Dorf Völlinghausen, Ortsteil der Gemeinde Möhnesee.

Die meisten Männer der Siedlung arbeiten in dem großen Werk der Metallindustrie, fünfzehn Kilometer östlich. Vor zehn Jahren kannte man hier dieses Werk nur dem Namen nach. Um Landarbeiter seßhaft zu machen, wurde die Siedlung einst mit erheblichen Mitteln des Landwirtschaftsministeriums finanziert. Niemand arbeitet heute noch bei einem Bauern. In ihrem soziologischen Gefüge hat sich die Siedlung längst dem übrigen Dorf angegliedert und gleichzeitig die stillen Revolutionen des Dorfes mitgemacht. Wir beiden Intellektuellen des Dorfes, ein Redakteur aus Dortmund und ich, nahmen vor zehn Jahren noch eine Sonderstellung ein. Wir galten als Außenseiter. Heute sind wir, wie der Fachmann sagen würde, integriert. Seit etwa zwei Jahren gibt es in der Siedlung auch keine Wanderarbeiter mehr. …

Vom Wandel des Dorfes haben nicht unwesentlich die großen Versandhäuser profitiert mit ihren dicken, bunten Katalogen – oder haben sie ihn mitverursacht? Noch vor dem Siegeszug des Fernsehens brachten sie eine unwiderstehliche Fülle optischer Eindrücke ins Haus mit einem Sortiment, wie es das kleine Textilgeschäft im Dorf nie bieten konnte, höchstens die Großstadt bei einem Schaufensterbummel – aber wann kam man vor zehn Jahren schon in die Großstadt? .. Zwar halten die Väter mit großem Reden von Kameradschaft und Treue und sehr vielem Alkohol unentwegt an der Vorstellung fest, dass man nur dann zur Dorfgemeinschaft gehört, wenn man auf die Fahne des Schützenvereins vereidigt wurde und im Schützenfest die Inkarnation des Dorfgeistes schlechthin sieht. Aber die Jungen finden schon diesen Schwur auf die Fahne bei ihrer Aufnahme in den Verein verwunderlich. …

Zum Mittag ist das Dorf ein Dorf der Frauen, da die Männer vom Bürgermeister angefangen, auswärts arbeiten. Gewiß, man kann einem der sechs Bauern begegnen, die motorisiert auf ihre Felder fahren und bei einem Gespräch sofort zu klagen beginnen, weil sie keine Arbeitskräfte mehr bekommen, alles selbst machen müssen und die Zukunft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gar nicht rosig sehen. Es fällt ihnen schwer, anzuerkennen, dass andere Berufe längst schon unter ähnlichen Wettbewerbsbedingungen stehen. Die Forderung nach Rentabilität ist ihnen unbefugter Eingriff in überkommene Privilegien. Sie fühlen den Primat des Bauern schwinden – einem geheiligten Primat, wie sie meinen. …

Die alten Ordnungen des Dorfes binden nicht mehr. Und die neue Ordnung, wenns es eine gibt, ist nicht mehr für das Dorf schlechthin und schon gar nicht mehr für dieses Dorf typisch. Die Anregungen und Impulse kommen heute von außen, aber nicht etwa nur aus der Großstadt; sie kommen von überall her in unserer Konsumgesellschaft. 

Heinrich Vormweg nähert sich eher im Schleichgang seiner Geburtsstadt Siegen und dem Siegerland an.

Es steht so, dass die Siegener, wie alle eingeborenen Siegerländer, zu Reichtum ein besonders inniges, selbstbewusstes, dabei verschwiegenes Verhältnis haben. Sie wollen sie es auch weiterhin halten. Ihr Reichtum muss solide sein, geglüht und gehämmert. Gewerkenreichtum. Die Siegbrücke schmücken, von einem Professor Friedrich Reusch traditionsgerecht gegossen, die Standbilder von Bergmann und Hüttenmann. .. Das Siegerland schloss sich, unter Kämpfen, dem reformierten Bekenntnis calvinistischer Richtung an. Pietistische Einflüsse wurden später bereitwillig aufgenommen. Es entstand die >>Siegerländer Gemeinschaftsbewegung<<: Freikirchen, Sekten, religiöse Vereine sprossen aus allen Winkeln hervor. …

Obwohl es inzwischen sogar Nachtlokale gibt, Theatersensembles in Siegen gastieren und die Schlossfestspiele zum Volksfest geworden sind, hat sich in einem bestimmten Bereich hieran erstaunlich wenig geändert. Und das bedeutet, dass Siegen bis heute ein in seiner Übersichtlichkeit und Geschlossenheit vermutlich unvergleichliches Paradigma für Max Webers These vom ursächlichen Zusammenhang zwischen Calvinismus und Kapitalismus ist. Werkeln, sparen, knausern und in wortkarger Überheblichkeit sich weit über alle gestellt fühlen, die Gott nicht persönlich zu sich erhoben hat, denn sie haben es nicht so weit gebracht. …

So leben sie vor sich hin. Vielleicht sollte ich die Widerstandskraft bewundern, mit der Siegen so viel von seiner überkommenen Originalität behauptet, den unermüdlich beschworenen Gespenstern von Massenzivilisation und Konsumgesellschaft zum Trotz. Und doch sind mir diese lieber. Sie geben den Menschen, schaut man nur ein wenig näher hin, die größere Chance. Enge des Herzens und des Geistes schließen sie gewiss nicht aus, ja fördern sie mit ihren aufdringlichen Angeboten – erzwingen sie aber nicht. Dafür haben Großmut, Toleranz, Politesse und Poesie für den Typus des Siegener auch heute noch einen Hautgout. Es gilt noch immer etwas das alte abschätzige Wort: >>Die schwätze jo kadollisch.<<. Da ist eine Schwelle, und sie wurde nicht noch nicht überschritten. Mag sein, dass Siegen beginnt, sie wenigstens zu erkennen. 

 

Von Rolevinck

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