Von Engelbert Kaempfer bis heute: Wie Forscher aus Westfalen unser Bild von Asien prägten und warum die Region zu einem Zentrum der Ostasienwissenschaften wurde.
Die Begegnung zwischen Okzident und Orient hat die europäische Geistesgeschichte seit jeher fasziniert. Doch während andere Regionen Deutschlands ihre Beziehungen zum fernen Osten eher aus der Distanz kultivierten, entwickelte Westfalen eine bemerkenswerte Tradition direkter, wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Asien – eine Tradition, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht und bis heute nachwirkt.
Der erste Blick: Kaempfer und die Entdeckung Japans
Als Engelbert Kaempfer im späten 17. Jahrhundert seine Reise nach Japan antrat, betrat er nicht nur geografisches Neuland. Der vermutlich erste Westfale, der systematisch über Ostasien forschte, schuf mit seiner „History of Japan“ ein Werk von solcher Präzision und Tiefe, dass es die europäische Japanforschung noch Jahrzehnte nach seinem Tod 1716 dominierte. Kaempfers Leistung liegt nicht allein in der akribischen Dokumentation einer für Europäer nahezu unbekannten Kultur, sondern in seiner Fähigkeit, das Fremde zu beobachten, ohne es vorschnell zu bewerten – eine wissenschaftliche Haltung, die ihrer Zeit weit voraus war.
Diese Tradition der empirischen Feldforschung setzte Hermann Ulphilas fort, dessen Expeditionen ihn bis nach Guinea und Indonesien führten. Sein Fokus auf die Pflanzenwelt mag zunächst fachspezifisch erscheinen, doch in der Beschäftigung mit der Flora Asiens manifestiert sich ein grundlegendes Prinzip westfälischer Asienforschung: die Überzeugung, dass kulturelles Verstehen durch die Auseinandersetzung mit den materiellen Grundlagen beginnt.
Bochum und Münster: Zentren moderner Sinologie
Im 20. Jahrhundert verlagerte sich der Schwerpunkt der westfälischen Asienwissenschaften vom individuellen Entdeckergeist zur institutionalisierten Forschung. Die Ruhr-Universität Bochum entwickelte sich zu einem der bedeutendsten Zentren deutscher Ostasienkunde – nicht zufällig, sondern durch das Wirken außergewöhnlicher Persönlichkeiten.
Helmut Martin gilt als der wohl bedeutendste deutsche Sinologe der Nachkriegszeit. Bis zu seinem Tod prägte er die Bochumer Sinologie und etablierte mit dem Richard-Wilhelm-Übersetzungszentrum eine Institution, die symbolträchtig nach jenem Gelehrten benannt wurde, der östliche Weisheit in westliche Sprache zu übersetzen verstand. Der Nachruf des SPIEGEL würdigte Martin nicht nur als Wissenschaftler, sondern als Brückenbauer zwischen den Kulturen – eine Rolle, die in Zeiten zunehmender geopolitischer Spannungen an Bedeutung gewinnt.
Diese Tradition setzte Heiner Roetz fort, der ebenfalls in Bochum lehrte. Seine Bereitschaft, sich wiederholt zur aktuellen Politik der Volksrepublik China zu äußern, zeigt, dass westfälische Asienwissenschaft nie reine Philologie war, sondern stets den Dialog mit der Gegenwart suchte. Die Festschrift zu seinem 65. Geburtstag dokumentierte nicht nur ein wissenschaftliches Œuvre, sondern auch die anhaltende Relevanz kritischer, engagierter Sinologie.
Auch die Universität Münster etablierte ein renommiertes Institut für Sinologie und Ostasienkunde. Das Studienangebot dort – anschaulich dokumentiert im Film „Sinologie an der WWU Münster“ – macht deutlich, dass Ostasienforschung in Westfalen längst kein Nischenfach mehr ist, sondern integraler Bestandteil der akademischen Landschaft.
Spezialisierung und Vielfalt
Die Breite westfälischer Asienforschung zeigt sich in der Vielfalt ihrer Schwerpunkte. Tilemann Grimm profilierte sich als ausgewiesener Experte des Maoismus – eine Expertise, die angesichts der anhaltenden Bedeutung Maos für das Selbstverständnis der Volksrepublik bis heute nachgefragt bleibt. Mareile Flitsch wiederum wendet sich der „materiellen Kultur“ Chinas zu, erforscht Technik und Alltagsgegenstände – jene Dimensionen also, die oft übersehen werden, wenn von „Hochkultur“ die Rede ist.
Robert Löbbeckes Aufenthalt in China zwischen 1895 und 1900 als Militärberater dokumentiert eine andere Form der Begegnung: den praktischen, oftmals pragmatischen Kontakt, der in Briefen und Fotografien festgehalten wurde. Die Veröffentlichung dieser Dokumente durch den Landschaftsverband Westfalen-Lippe unter dem Titel „Ein Westfale in China“ bewahrt nicht nur persönliche Erinnerungen, sondern kulturgeschichtliche Zeugnisse einer Epoche, in der Europa und Asien in oft spannungsreichen Austausch traten.
Jenseits Chinas: Japan, Korea und der Nahe Osten
Westfälische Asienwissenschaft beschränkt sich nicht auf China. Der Japanologe Horst Hammitzsch lehrte ebenfalls in Bochum, wo sich die Universität zudem als führend in der Koreanistik etablierte – eine Disziplin, die angesichts der geopolitischen Bedeutung der koreanischen Halbinsel zunehmend an Relevanz gewinnt. Helmut Brinker ergänzte als weiterer bedeutender Japanologe dieses Spektrum.
Hugo Makibi Enomiya-Lassalle verkörpert eine andere Dimension der Begegnung: den spirituellen Dialog. Als ZEN-Lehrer und Kenner japanischer Kultur verbrachte er den Großteil seines Lebens in Japan und vollzog jene existenzielle Annäherung, die über akademisches Studium hinausgeht.
Dass die Ruhr-Universität Bochum auch über ein Seminar für Orientalistik und Islamwissenschaften verfügt, erweitert den Blick noch einmal: Westfälische Asienforschung umfasst den gesamten Kontinent. Die Tradition der Altorientalistik reicht dabei weit zurück. Anton Deimel gilt als einer der Begründer der Sumerologie, während Hubert Grimme (1864–1942) die deutsche Altorientalistik durch seine Arbeiten zu semitischen Sprachen und Religionen prägte. Heinrich Adolph Grimm lehrte im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert unter anderem als Professor für Orientalistik an der damaligen Universität Duisburg.
Die Pionierleistungen der frühen Orientalistik sind bemerkenswert: Franz August Schmölders (1809–1889) schuf mit seinen Arbeiten über arabische Literatur und islamische Philosophie international rezipierte Grundlagenwerke. Johann Arnold Kanne (1773–1824) entwickelte eigene Sprachtheorien und erforschte mythologische Symbole sowie die historische Entwicklung von Sprache und Religion – Ansätze, die ihrer Zeit weit voraus waren.
Die jüngere Generation setzt diese Tradition mit beeindruckender Expertise fort. Wolfgang-Ekkehard Scharlipp etablierte sich als ausgewiesener Experte für türkische und zentralasiatische Sprachen sowie für die Geschichte der Turksprachen – ein Forschungsfeld, das die geografische Reichweite westfälischer Asienwissenschaften bis nach Zentralasien ausdehnt. Rainer Hannig machte sich durch seine umfangreichen lexikographischen Arbeiten in der Ägyptologie einen Namen.
Besonders hervorzuheben ist Susanne Paulus, eine profilierte Altorientalistin, deren herausragende Forschungsleistungen gleich zweifach gewürdigt wurden: Sie erhielt sowohl den renommierten Leibnitz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft als auch den Karl-Arnold-Preis der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste für ihre exzellenten Beiträge zur Keilschriftforschung. Ihre Auszeichnungen belegen, dass westfälische Asienwissenschaft nicht nur eine ehrwürdige Vergangenheit hat, sondern auch in der Gegenwart zur internationalen Spitzenforschung zählt.
Ein Erbe mit Zukunft
Was diese disparaten Biografien verbindet, ist mehr als geografischer Zufall. Westfälische Asienwissenschaft zeichnet sich durch eine besondere Verbindung von empirischer Neugier, kritischer Distanz und dem Willen zum Dialog aus. Von Kaempfers akribischen Beobachtungen bis zu Roetz‘ Stellungnahmen zur Gegenwartspolitik reicht eine Linie wissenschaftlicher Redlichkeit, die das Fremde ernst nimmt, ohne es zu exotisieren oder zu vereinnahmen.
In einer Zeit, in der die Beziehungen zwischen Europa und Asien neu austariert werden müssen, gewinnt dieses westfälische Erbe aktuelle Bedeutung. Die Faszination, die Asien auf Europäer ausübt, ist ungebrochen – doch sie bedarf der wissenschaftlichen Fundierung, um nicht in Klischees oder Projektionen zu verfallen. Dass diese Fundierung in Westfalen eine besonders lange und produktive Tradition hat, ist kein Zufall, sondern das Resultat von Generationen von Forschern, die den weiten Weg nach Osten nicht scheuten.