Als die Koggen über die Ostsee segelten und westfälische Kaufleute die Geschicke Europas mitbestimmten: Die Geschichte der Hanse ist auch eine Geschichte Westfalens – erzählt durch kühne Händler, die mit Wagemut und Weitsicht den Grundstein für ein geeintes Europa legten.


Wenn Historiker heute von den Wegbereitern des modernen Bürgertums sprechen, von jenen Menschen, die erstmals eine Vision eines vernetzten Europas lebten, dann richten sich ihre Blicke unweigerlich auf die Kaufleute der Hanse. Vom 12. bis ins 17. Jahrhundert hinein durchpflügten ihre charakteristischen Koggen die Nord- und Ostsee, transportierten Waren bis nach Italien und Spanien und schufen ein Handelsnetzwerk, das seiner Zeit voraus war. Die Hanse – ein loser Verbund autonomer Städte unter der informellen Führung Lübecks – beherrschte den nordeuropäischen Handel mit einer Effizienz, die manche Historiker dazu veranlasst, von der ersten globalen Handelsmacht der Geschichte zu sprechen.

Doch die Wurzeln dieses bemerkenswerten Phänomens reichen tiefer, als der Glanz Lübecks zunächst vermuten lässt. Westfalen, jene Region im Herzen des heutigen Deutschlands, gilt neben der stolzen Hansekönigin an der Trave als eigentliche Keimzelle des hansischen Geistes. Die vermeintliche Trennung zwischen westfälischer Herkunft und lübischer Größe erweist sich bei genauerer Betrachtung als künstlich: Westfalen strömten in Scharen nach Lübeck, wurden dort Bürger und prägten den Aufstieg der Stadt maßgeblich. Die Ratsherren- und Bürgermeisterstühle Lübecks lasen sich wie ein westfälisches Familienregister: Johann Füchting und Konrad Wibbeking aus Rietberg, Hermann von Wickede I., Gotthard III. von Hoeveln, der Dortmunder Bernhard Diedrich Brauer, sein Stadtgenosse Hinrich Castorp, die Münsteraner Johann Glandorp und Adolf Rodde, Johann Heinrich Dreyer aus Lemgo, Gerhard von Minden – und natürlich die einflussreiche Familie Warendorp, deren adliges Geschlecht aus Warendorf stammte. Die Familien Kerkring und Wickede komplettierten diese westfälische Elite im Norden.

In Westfalen selbst waren es Soest, Dortmund, Osnabrück und Münster, die als Hansestädte zu Bedeutung gelangten. Doch während diese Städte die institutionellen Zentren bildeten, waren es Einzelne, die den hansischen Handel mit ihrem Unternehmergeist und ihrer Risikobereitschaft verkörperten. Dortmund brachte dabei die schillerndsten Persönlichkeiten hervor: Tidemann Lemberg, dessen Name bis heute nachhallt, der legendäre Hildebrand Veckinchusen, dessen Geschäftskorrespondenz Historikern einzigartige Einblicke in die hansische Handelspraxis gewährt, Konrad Klepping und die weitverzweigte Familie der Sudermanns. Bezeichnenderweise zog es die meisten von ihnen fort aus Westfalen – Lemberg und die Sudermanns nach Köln, Veckinchusen nach Brügge und zeitweise nach Lübeck. Nur Klepping blieb seiner Heimatstadt Dortmund treu. Aus Soest stammte der Kaufmann Hans von Lunen.

Doch hinter diesen leuchtenden Namen verbirgt sich eine weitaus größere Schar von Kaufleuten und Ratsherren, deren Wirken das eigentliche Rückgrat der Hanse bildete. Münster, die Bischofsstadt, brachte eine bemerkenswerte Zahl von Händlern hervor: Arnold Sparenberg gehörte einer Kaufmannsdynastie an, die tief im hansischen Netzwerk verwurzelt war; Godart Wigerinck handelte mit Hansegütern; Hermann Plönnies vereinte als Kaufmann und Ratsherr wirtschaftliche Macht mit politischem Einfluss; Berend Bomhover bewegte sich zwischen Binnenhandel und Ostseegeschäften; Hermann Messmann übernahm als wohlhabender Bürger Verantwortung in der Kommune; Arnold Gottfried Benser repräsentierte im 16. Jahrhundert jene zweite Generation, die den Übergang in eine stärker regional geprägte Wirtschaftsordnung erlebte.

Aus anderen westfälischen Städten und Regionen traten weitere Akteure hinzu: Johann Domann aus Westfalen begründete seinen Wohlstand durch den Handel mit Tuch, Salz und Getreide. Hermann Petersen agierte als Schiffer und Fernkaufmann auf den Lübecker Handelsrouten zwischen Nord- und Ostsee. Leonhard von der Borgh entstammte einer alteingesessenen Ratsfamilie, die sowohl in Lübeck als auch in Dortmund vertreten war. Gerhard von Attendorn verband durch seine Familie aus Südwestfalen den heimischen Raum mit den überregionalen Netzwerken. Hans Regkmann stand stellvertretend für jene Kaufleute, die als Boten und Vermittler nach Brügge, Bergen oder Nowgorod reisten. Hermann Claholt war im Textilgewerbe tätig und gehörte zu jenen regionalen Unternehmern, die den hansischen Handel stützten. Nikolaus Lüdinghusen aus Lüdinghausen bei Münster spielte im 15. Jahrhundert eine Rolle in regionalen Rats- und Handelsangelegenheiten. Arnold Isselhorst schließlich wirkte im Spannungsfeld zwischen bäuerlichem Grundbesitz und aufkommendem Kaufmannskapital und gewann dadurch Einfluss im Münsterland.

Diese Namen mögen heute kaum noch im öffentlichen Bewusstsein präsent sein – doch sie zeigen, dass die Hanse kein Projekt einzelner Heroen war, sondern ein dichtes Netzwerk zahlloser Akteure, die durch ihren alltäglichen Handel, ihre Ratsarbeit und ihre Vermittlungstätigkeit das große Ganze erst möglich machten.

Wie kühn und selbstbewusst diese westfälischen Kaufleute agierten, zeigt eine Anekdote, die bis heute Staunen hervorruft: Tidemann Lemberg gewährte dem englischen König einen Kredit – und nahm dafür nichts Geringeres als die Krone selbst als Pfand. Eine solche Transaktion spricht nicht nur von außerordentlichem Reichtum, sondern auch von einem Selbstverständnis, das Kaufleute auf Augenhöhe mit Königen sah.

Die kulturelle Bedeutung dieser westfälischen Hansekaufleute reichte weit über ihre ökonomische Macht hinaus. Georg Giese, ein weiterer Kaufmann mit westfälischen Wurzeln, wurde von keinem Geringeren als Hans Holbein dem Jüngeren portraitiert – ein Zeugnis dafür, wie sehr diese Männer nicht nur Handel trieben, sondern auch Kultur und Kunst förderten und sich als Teil einer europäischen Elite verstanden.

Die Hanse war freilich nicht nur ein Projekt des Profits, sondern auch eines, das seinen Preis forderte. Bruno Warendorp, Bürgermeister von Lübeck, fiel 1341 bei der Verteidigung hansischer Interessen in einer Fehde – sein Tod zeigt exemplarisch, wie eng Politik, Krieg und Handel in jener Zeit verwoben waren. Die Wehrhaftigkeit der Hansestädte war keine hohle Phrase, sondern gelebte Notwendigkeit in einer Zeit, in der Handelswege mit Waffengewalt gesichert werden mussten.

Was bleibt von dieser großen Zeit? Das ideelle Erbe der Hanse lebt fort – nicht als museale Erinnerung, sondern als gelebte Tradition. Die jährlich stattfindenden Westfälischen Hansetage und der Westfälische Hansebund in Herford pflegen dieses Vermächtnis. Reisen und Forschungen auf den Spuren der Hanse machen die einstigen Handelswege und Stadtnetze erlebbar, die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Spuren sind bis heute sichtbar. Die Literatur trägt das Ihre zur Erinnerung bei: Jan Zweyers historischer Roman „Im Dienst der Hanse“ verbindet faktengetreu geschilderte Handelswege und politische Strukturen mit packender Erzählung und macht die Lebenswelt jener Zeit nachvollziehbar. Sie erinnern daran, dass die Vision eines geeinten, durch Handel und Dialog verbundenen Europas keine Erfindung unserer Zeit ist, sondern ihre Vorläufer in jenen mutigen Kaufleuten hatte, die mit ihren Koggen nicht nur Waren, sondern auch Ideen, Wissen und ein Bewusstsein für grenzüberschreitende Zusammenarbeit über die Meere trugen.

Die Geschichte Westfalens und der Hanse ist die Geschichte eines frühen europäischen Bewusstseins – getragen von Einzelnen, die erkannten, dass Wohlstand und Fortschritt nur im Miteinander zu erreichen sind. In Zeiten, in denen Europa erneut nach seiner Identität sucht, lohnt der Blick zurück zu jenen Kaufleuten, die bereits vor Jahrhunderten zeigten: Grenzen sind überwindbar, wenn der Wille zum Austausch größer ist als die Furcht vor dem Fremden.

Von Rolevinck

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