Von den Anfängen der Ornithologie bis zur modernen Verhaltensforschung – Westfalen hat der Zoologie bedeutende Impulse gegeben. Eine Region zwischen Tradition und wissenschaftlicher Innovation.
Als Hermann Landois am 26. Juni 1875 in Münster den ersten westfälischen zoologischen Garten eröffnete, ahnte wohl niemand, dass dies der Beginn einer bemerkenswerten wissenschaftlichen Tradition sein würde. Unterstützt von Ferdinand von Droste zu Hülshoff, einem renommierten Ornithologen, legte Landois den Grundstein für das, was später zum Allwetterzoo Münster werden sollte. Doch die Geschichte der westfälischen Zoologie reicht weit über diese institutionelle Gründung hinaus.
Die großen Pioniere der Vogelkunde
Die Ornithologie bildete lange Zeit das Herzstück der zoologischen Forschung in Westfalen. Bernard Altum, einer der führenden Ornithologen seiner Zeit in ganz Deutschland, revolutionierte das Verständnis vom Vogelverhalten. Seine Theorie zur Revierbildung bei Vögeln, in der er erstmals die Funktion des Vogelgesangs systematisch einbezog, gilt bis heute als wegweisend. Friedrich Westhoff und Joseph Peitzmeier setzten diese Tradition fort, während Joachim Steinbacher, der lange am Senckenberg-Museum in Frankfurt arbeitete, über beeindruckende 67 Jahre hinweg die älteste Vogelliebhaber-Zeitschrift im deutschsprachigen Raum herausgab und bedeutende Beiträge zur Avifauna Mitteleuropas leistete.
Besonders faszinierend ist die Geschichte Alexander Koenigs, Sohn des sogenannten Zuckerkönigs Leopold Koenig. Während seiner Schulzeit am Arnoldinum in Burgsteinfurt begann er mit dem Sammeln von Vogeleiern und Tierpräparaten – eine Phase, die er später als prägend für seine gesamte Laufbahn bezeichnen sollte. Als Begründer des Koenig-Museums in Bonn schuf er eine Institution von überregionaler Bedeutung.
Auch die internationale Dimension der westfälischen Ornithologie zeigt sich eindrucksvoll: Eduard Friedrich Eversmann, Naturforscher und Forschungsreisender, beschrieb im 19. Jahrhundert auf seinen Expeditionen in Russland zahlreiche Tierarten und legte wichtige Grundlagen für die zoologische Erforschung Zentralasiens. Claudia Bernadine Elisabeth Hartert unterstützte ihren Mann Ernst Hartert, Direktor des Rothschild-Museums in Tring, bei Feldarbeiten und Sammlungen und war Mitautorin verschiedener wissenschaftlicher Publikationen.
Horst Mester wiederum machte sich nicht nur als bester Kenner der Vogelwelt der Balearen und Pityusen einen Namen, sondern bereicherte auch die heimatliche Vogelkunde mit zahlreichen Arbeiten. Sein wohl bekanntestes Werk über den Kranichzug im mittleren Westfalen zeugt von der detaillierten Naturbeobachtung, die westfälische Ornithologen auszeichnete.
Vom Vogelschutz zur modernen Forschung
Die praktische Umsetzung ornithologischer Erkenntnisse zeigt sich exemplarisch an den Rieselfeldern Münster. Michael Speckmann und Gerd Harengerd verwandelten dieses EU-Vogelschutzgebiet in ein Paradies für Vögel, das weit über die Grenzen der Region hinaus bekannt wurde. Zwischen 1961 und 1973 erschien mit der ornithologischen Zeitschrift Anthus ein eigenes Publikationsorgan, das sich der westfälischen Vogelwelt widmete.
Doch die Vogelkunde in Westfalen lebt auch von der Arbeit ehrenamtlicher Naturforscher. Paul Westerfrölke gilt als Vertreter jener engagierten Beobachter, die seit dem frühen 20. Jahrhundert lokale Faunenkenntnis bewahrten und durch ihre regionalen Studien zur Dokumentation der heimischen Vogelwelt beitrugen. In gleicher Tradition stehen Josef Pelster, ein engagierter Lehrer und Hobbyornithologe aus dem Kreis Paderborn, sowie Rolf Siewing, der sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Vogelwelt Ostwestfalens beschäftigte.
Besonders eindrucksvoll zeigt die Ornithologische Arbeitsgemeinschaft Paderborn, was regionale Zusammenarbeit bewirken kann. Mit inzwischen über 13.000 eingetragenen Beobachtungen leisten die Vogelbeobachter seit Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag zum Monitoring und Schutz der heimischen Vogelwelt in Ostwestfalen.
Die moderne Ornithologie in Westfalen hat sich zudem neuen Forschungsfeldern geöffnet. Andreas Wessel, der an den Universitäten Münster und Siegen tätig war, gilt als einer der bekanntesten Vertreter der Biokommunikation und Bioakustik in Deutschland – eine auf Günter Tembrock zurückgehende Forschungsrichtung, die sich mit den akustischen Signalen der Tierwelt befasst.
Verhaltensforschung: Westfalens zweites Standbein
Neben der Ornithologie entwickelte sich die Verhaltensforschung zum zweiten großen Pfeiler der westfälischen Zoologie. Das Schloss Buldern in Dülmen im Kreis Coesfeld beherbergte in den 1950er Jahren die Forschungsstelle für vergleichende Verhaltensforschung – ein Ort, der Wissenschaftsgeschichte schreiben sollte. Hier betrieben Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeld ihre bahnbrechenden Forschungen an Gänsen, für die sie später weltberühmt wurden. Die Forschungsstelle war ein Vorläufer des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie in Seewiesen und unterstreicht damit die Bedeutung Westfalens für die Etablierung der modernen Verhaltensforschung in Deutschland.
Doch die westfälische Verhaltensforschung war nicht nur Schauplatz, sondern brachte auch eigene herausragende Wissenschaftler hervor. Eckhard Hess, gebürtig aus Bochum, lehrte später in den USA und wurde zu einem berühmten Verhaltensforscher. Klaus-Jürgen Sucker widmete sich der Erforschung von Berggorillas in Uganda, wo er 1994 unter mysteriösen Umständen verstarb.
Bielefeld: Das moderne Zentrum der Verhaltensforschung
Die Universität Bielefeld entwickelte sich zu einem führenden Zentrum der Verhaltensforschung – nicht nur in Westfalen, sondern bundesweit. Klaus Immelmann begründete dort das Fach Verhaltensbiologie und machte das Institut international bekannt. Seine Forschungen zur Individualentwicklung von Verhalten, speziell zu den Mechanismen und Auswirkungen der sexuellen Prägung und der Gesangsprägung am Modelltier Zebrafink, setzten Maßstäbe. Mit über 100 wissenschaftlichen Arbeiten und Büchern, darunter Standardwerke zur Ethologie, prägte Immelmann die Disziplin nachhaltig.
Das Besondere an der Bielefelder Verhaltensforschung ist die Zusammenarbeit verschiedener Abteilungen. Immelmanns Erbe wird heute von Oliver Krüger, Barbara Caspers und Klaus Reinhold fortgesetzt. Die internationale Bedeutung zeigt sich auch daran, dass dort im August 2023 bereits zum zweiten Mal der Weltkongress zur Verhaltensforschung ausgerichtet wurde.
Norbert Sachser, ein Schüler Immelmanns, gilt als Wegbereiter der deutschen Verhaltensbiologie. Unter seiner Leitung entwickelte sich das Institut für Verhaltensbiologie an der Universität Münster zu einer der international renommiertesten Forschungs- und Ausbildungsstätten der Verhaltensbiologie.
Zwischen Tradition und Innovation
Die westfälische Zoologie zeichnet sich durch bemerkenswerte Vielfalt aus. Hermann Wurmbach erlangte mit seinem Lehrbuch der Zoologie herausragenden Ruf. Paul Mayer, der die Zoologische Station in Messina gründete und zahlreiche marine Organismen beschrieb, trug zur Entwicklung der vergleichenden Morphologie bei. Werner Schröder machte als langjähriger Direktor das Berliner Aquarium zur weltweit artenreichsten Sammlung. Wilfried Westheide gilt als einer der führenden Systematiker in der Biologie und hat mehrere Standardwerke verfasst. Hinrich Rahmann brachte mit seinen Forschungen im Bereich der Wirbeltierkunde Beiträge zum besseren Verständnis biologischer Anpassungen.
Die moderne zoologische Forschung verbindet zunehmend verschiedene Disziplinen. Christoph Bleidorn, Professor an der Universität Göttingen, erforscht mit molekularer Phylogenetik die stammesgeschichtlichen Zusammenhänge von Wirbellosen und entwickelt neue Methoden zur Rekonstruktion evolutionärer Verwandtschaften.
Selbst ungewöhnliche Verbindungen werden in Westfalen geknüpft: Rainer Hagencord begründete in Münster das bundesweit erste und einzige Institut für Theologische Zoologie, das biologische und theologische Ansätze verbindet und das Verhältnis von Mensch und Tier aus spiritueller Perspektive neu deutet. Der Philosoph Johannes Gebbing bezieht sich in seinen Arbeiten auf Fragen des Zusammenwirkens von Naturphilosophie, Religion und moderner Gesellschaft. Und nicht alle Entwicklungen verliefen widerspruchsfrei – Hanna-Maria Zippelius übte gegen Ende ihres Lebens in ihrem Buch „Die vermessene Theorie“ Kritik an der von Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen vertretenen Instinkttheorie.
Von den ersten Sammlungen eines Schülers in Burgsteinfurt bis zu internationalen Kongressen in Bielefeld – die westfälische Zoologie hat einen weiten Weg zurückgelegt. Sie steht beispielhaft dafür, wie regionale Forschungstraditionen internationale Bedeutung erlangen können, wenn wissenschaftliche Neugier auf institutionelle Förderung und interdisziplinäre Offenheit trifft.