Von Carl Bergs visionären Luftschiffen bis zu den Leichtmetallfelgen auf Deutschlands Straßen: Südwestfalen mit Sauerland und Siegerland hat sich zur heimlichen Hauptstadt des deutschen Leichtmetallbaus entwickelt. Zusammen mit wichtigen Standorten in Ostwestfalen und dem westfälischen Ruhrgebiet ist hier eine Branche konzentriert, die zwischen Innovationsdruck und Energiedilemma navigieren muss – und dabei Weltmarktführer hervorbringt.
Das Paradox des leichten Metalls
Es ist eine der großen Ironien der modernen Industrie: Aluminium soll Energie sparen, doch seine Herstellung verschlingt gewaltige Mengen davon. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, als die großindustrielle Produktion des Metalls begann, prägt dieser Widerspruch eine Branche, die heute wichtiger ist denn je. In Zeiten steigender Energiepreise und Klimawandel gewinnt jedes eingesparte Kilogramm im Fahrzeugbau buchstäblich an Gewicht. Die Automobilindustrie rechnet vor: Leichtere Fahrzeuge verbrauchen weniger Treibstoff, stoßen weniger CO₂ aus. Die Luftfahrt argumentiert ähnlich. Doch der Preis dafür wird andernorts gezahlt – in den Schmelzöfen und Elektrolysen, wo Aluminium aus Bauxit gewonnen wird.
Leichtmetalle, definiert durch ihre Dichte von unter 5 Gramm pro Kubikzentimeter, umfassen neben Aluminium auch Magnesium, Titan, Beryllium und Lithium. Ihre Verarbeitung folgt zwar grundsätzlich den gleichen Prinzipien wie bei anderen Metallen, doch ihre besonderen Eigenschaften – Korrosionsbeständigkeit, Formbarkeit, Festigkeit bei geringem Gewicht – machen sie zu Schlüsselmaterialien der modernen Technik. Dass ausgerechnet eine Region im Herzen Westfalens zum Epizentrum dieser Industrie wurde, ist dabei alles andere als Zufall.
Carl Berg und die Anfänge
Die Geschichte beginnt in Lüdenscheid, einer Stadt, die man heute kaum mit Luftfahrtpionieren assoziiert. Dort legte Carl Berg im ausgehenden 19. Jahrhundert den Grundstein für die Aluminiumindustrie Deutschlands. Sein Name ist untrennbar mit dem Luftschiffbau verbunden – eine Branche, die damals futuristischer nicht hätte sein können. Berg erkannte früh das Potenzial des neuen Werkstoffs und machte sein Unternehmen zu einem Vorreiter. Was in Lüdenscheid begann, sollte Schule machen. Um Berg herum entstand ein industrielles Ökosystem, das bis heute nachwirkt.
Die geografische Konzentration war kein Zufall. Südwestfalen brachte ideale Voraussetzungen mit: eine gewachsene Metallverarbeitungstradition, unternehmerischen Pioniergeist, später auch die Nähe zu wichtigen Absatzmärkten. Wo einst Eisen und Stahl dominierten, eroberten sich die Leichtmetalle Raum – nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung einer diversifizierten Industrielandschaft. Zusammen mit angrenzenden Standorten in Ostwestfalen und dem westfälischen Ruhrgebiet entstand ein industrielles Cluster, das bis heute zu den bedeutendsten Europas zählt.
Die Giganten der Gegenwart
Heute liest sich die Unternehmenslandschaft der Region wie ein Who’s who der Branche. Die Otto Fuchs KG verkörpert mit ihrem breiten Portfolio die Vielseitigkeit des modernen Leichtmetallbaus: Von Luft- und Raumfahrt über Bauanwendungen bis hin zum Tochterunternehmen Schüco in Bielefeld, einem der führenden Systemanbieter für Fenster, Fassaden und Türen, reicht das Spektrum. Ein Komplettanbieter, der zeigt, wie sehr Aluminium unseren Alltag durchdringt – oft unbemerkt.
Borbet hat sich einen anderen Namen gemacht: als deutscher Marktführer für Leichtmetallfelgen. Zusammen mit Otto Fuchs prägt das Unternehmen das Bild auf deutschen Straßen. Autoliebhaber kennen beide Namen, verbinden mit ihnen Qualität und Design. Was als Nischenprodukt begann, ist längst Massenmarkt – jedes dritte Auto rollt heute auf Alufelgen.
Die Geschichte der ehemaligen Honsel AG aus Meschede, heute Martinrea Honsel Germany, erzählt vom Wandel der Branche. Als Serienlieferant für die Automobilindustrie steht das Unternehmen exemplarisch für die Integration in globale Wertschöpfungsketten. Die Komponenten, die hier gefertigt werden, landen in Fahrzeugen auf der ganzen Welt – unsichtbar, aber unverzichtbar.
Vom Kultrad bis zur High-Tech-Tür
Manche Produkte erreichen Kultstatus. Das Kettler-Alu-Rad aus Ense-Parsit im Kreis Soest ist so ein Fall. Als erfolgreichstes Fahrradmodell seiner Kategorie in Deutschland steht es für eine Zeit, als Aluminium im Fahrradbau noch die Ausnahme war. Heute ist es Standard, aber die Marke bleibt.
In derselben Gemeinde produziert Brökelmann Aluminiumprodukte für unterschiedlichste Abnehmer: von der Automobil- und Luftfahrtindustrie bis zu Endkunden, die High-Tech-Türen aus Aluminium suchen. Diese Bandbreite zeigt, wie sehr sich die Märkte ausdifferenziert haben. Aluminium ist längst nicht mehr nur Werkstoff für Spezialanwendungen, sondern Material für den gehobenen Wohnungsbau.
Die Verl-Connection
Verl, eine Kleinstadt in Ostwestfalen, hat sich zu einem unerwarteten Hotspot entwickelt. Gleich drei bedeutende Unternehmen der Branche sind hier ansässig. Alulux führt Rolladen und Garagentore aus Aluminium – Produkte, die in ihrer Selbstverständlichkeit kaum noch auffallen, aber vor wenigen Jahrzehnten noch Innovation waren.
Die heroal – Johann Henkenjohann GmbH & Co. KG zählt europaweit zu den führenden Anbietern von Aluminium-Profilsystemen für Rollladen, Rolltore, Fenster, Türen und Fassaden. Der Name mag außerhalb der Branche wenig bekannt sein, doch die Produkte begegnen einem täglich – in Bürogebäuden, Wohnhäusern, öffentlichen Bauten.
Graute aus dem Verler Ortsteil Kaunitz schrieb ein Stück Technikgeschichte: Als erstes Unternehmen in Europa stellte es Aluminium-Haustürfüllungen mit glattem Aluminiumblech und glaseinfassender Aluminium-Ziersprosse her. Eine technische Finesse, die Architekten und Bauherren neue Gestaltungsmöglichkeiten eröffnete.
Weltmarktführer aus der Provinz
Dass ausgerechnet Nielsen-Design aus Rheda-Wiedenbrück Weltmarktführer für Rahmenprofile aus Aluminium ist, würde man zunächst nicht vermuten. Doch genau solche Geschichten schreibt die Region immer wieder. Hier entstehen Marktführer fernab der Metropolen, Unternehmen, die in hochspezialisierten Nischen globale Bedeutung erlangen.
Achenbach-Buschhütten aus Kreuztal im Kreis Siegen verkörpert diese Tradition in besonderer Weise. Als eines der ältesten Unternehmen Deutschlands hat es sich nach eigener Aussage zur Weltspitze als Spezialist für Aluminium-, Feinband- und Folienwalzwerke sowie Walzwerkautomatisierung entwickelt. Hier wird nicht nur produziert, sondern auch die Produktionstechnik selbst perfektioniert – ein Metageschäft, das besondere Expertise erfordert.
Die Alanod Aluminium-Veredlung GmbH & Co. KG aus Ennepetal wiederum besetzt eine andere Nische: Oberflächenveredelung. Binnen weniger Jahre wuchs das Unternehmen zum führenden europäischen Hersteller von anodisiertem Aluminiumband bis zu einer Breite von 1250 Millimetern. Solche Superlative entstehen nicht durch Zufall, sondern durch konsequente Spezialisierung und technologische Exzellenz.
Hightech-Materialmix: Über Aluminium hinaus
Die Avanco-Gruppe aus Herford zeigt, wohin die Reise geht. Mit ihrer Spezialisierung auf High-End-Leichtbau aus Kohlefaser-Verbundwerkstoffen und Aluminium steht sie für eine neue Generation des Leichtmetallbaus. Das bekannteste Tochterunternehmen Inometa verbindet Materialien zu Hybridlösungen, die noch leichter, noch fester, noch anspruchsvoller sind. Hier verschmelzen Tradition und Zukunft.
Zwischen Tradition und Transformation
Die Region um Südwestfalen mit ihren Ausläufern in Ostwestfalen und das westfälische Ruhrgebiet ist zur Hochburg des deutschen Leichtmetallbaus geworden – nicht durch Zufall, sondern durch die konsequente Weiterentwicklung industrieller Traditionen. Die Region verbindet handwerkliches Können mit Hochtechnologie, Mittelstand mit Weltmarktführerschaft, lokale Verwurzelung mit globaler Ausrichtung.
Doch die Branche steht vor grundlegenden Herausforderungen. Das Energiedilemma bleibt ungelöst: Solange Aluminium mit konventionellem Strom produziert wird, bleibt die Ökobilanz ambivalent. Die Kreislaufwirtschaft, das Recycling von Aluminium, wird daher immer wichtiger – hier liegt der Energiebedarf nur bei einem Bruchteil der Primärproduktion.
Zugleich wächst der Innovationsdruck. Neue Materialien, neue Fertigungsverfahren, neue Anforderungen aus Digitalisierung und Elektromobilität fordern die etablierten Strukturen heraus. Die Unternehmen der Region reagieren darauf mit dem, was sie schon immer auszeichnete: Anpassungsfähigkeit, technischer Exzellenz und dem Mut, Neuland zu betreten.
Carl Berg würde seine Region heute kaum wiedererkennen. Aus seinen Luftschiffen wurde eine Industrie, die Millionen von Produkten fertigt – vom Fensterrahmen bis zum Flugzeugbauteil. Doch die Grundidee blieb: Mit leichten Materialien Großes zu erreichen. Westfalen schreibt diese Geschichte seit über einem Jahrhundert fort – und wird es, allen Herausforderungen zum Trotz, wohl auch weiterhin tun.