Die Corveyer Wandmalerei ist nördlich der Alpen die einzige bekannte mittelalterliche Darstellung des Homer-Stoffes. Seinen Platz in einer Kirche dürfte Odysseus nur deshalb gefunden haben, weil diese antike Szene – wie andere auch – christlich umgedeutet werden konnte: Aus dem Fabelwesen wird die Verkörperung des Bösen, das der christliche Streiter überwindet. …

Aber trotz dieser christlichen Umdeutung eines antiken, also heidnischen Mythos, ist es doch erstaunlich, dass hier in Corvey die frommen Mönche auf die Erzählung Homers zurückgegriffen haben. Trotz Völkerwanderungen und kultureller Brüche, die antike Überlieferung war doch nicht ganz aus dem Bewusstsein der Gelehrten – und das waren im 9. Jahrhundert ausschließlich Geistliche – verschwunden. Und das Kloster Corley war in dieser Zeit die bedeutendste Pilgerstätte der westfränkisch-karolingischen Kultur in Sachsen, wo antike, oströmische und auch irisch-angelsächsische Einflüsse zusammenliefen, was dann später als “karolingische Renaissance” bezeichnet wurde. Wie sehr die antike Überlieferung gerade in Corvey gepflegt wurde, zeigt nicht zuletzt auch die Wiederentdeckung der ersten Bücher der Annalen des römischen Geschichtsschreibers Publius Cornelius Tacitus im Jahre 1509, die in einer karolingischen Abschrift die Stürme der Jahrhunderte überdauert hatten.

Quelle: 100 Meisterwerke westfälischer Kunst, Autor: Klaus Kösters

Von Rolevinck

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