Von Ralf Keuper
Die Tatsache, dass in der Geschichte bisher nie ein Staat Westfalen existiert hat, der zumindest dem heutigen Staatsverständnis entspricht, wird gerne als Begründung für die angeblich fehlende oder schwach ausgeprägte Westfälische Identität herangezogen. Anders als in anderen Regionen, so wird eingewandt, habe es in Westfalen nie ein echtes Zentrum gegeben. Das Königreich Westphalen unter Napoleon, da kann man den Kritikern nur Recht geben, kann nicht ernsthaft als Gegenbeispiel durchgehen. Ebensowenig das Herzogtum Westfalen, das sich im Wesentlichen auf das Sauerland und die Soester Börde beschränkte.
Dass der Staatsgedanke den Westfalen nie fremd, im Gegenteil sehr vertraut war, beweist nicht zuletzt die auffallend hohe Anzahl von Staats-und Gesellschaftstheoretikern und Staatsmännern aus oder in Westfalen der letzten Jahrhunderte.
Die von Gustav Engel in seinem Buch Die Westfalen. Volk und Geschichte beschriebene Haltung, den Staat so weit wie möglich auf Distanz zu halten, hat kaum jemand so sehr zu seinem Thema gemacht wie Justus Möser aus Osnabrück, der als der entschiedenste Gegner des Absolutismus gilt. Ohne jetzt diesen Umstand überzeichnen zu wollen, lassen sich erste Ansätze dazu bereits im frühen Mittelalter finden, und zwar in Gestalt des ersten sächsischen Landtags zu Markloh , von dem Historiker Hermann Rothert auch “Das erste Parlament der Geschichte” genannt, eine Ansicht, die mir zu hoch gegriffen ist, zumal sich das “Demokratieverständnis” der alten Sachsen nur kaum mit dem heutigen vergleichen lässt.
Was häufig übersehen wird, ist, dass Westfalen eigentlich nur ein Spiegelbild Deutschlands war, worauf der häufig für Deutschland zitierte Beiname Die verspätete Nation hinweist. Auch Deutschland hatte über Jahrhunderte hinweg kein einheitliches Zentrum, die Zersplitterung in viele kleine Fürstentümer, Grafschaften und Königreiche war in Europa einzigartig und wurde von vielen Beobachtern der damaligen Zeit auch moniert, so wie Alexis de Tocqueville in seinem Klassiker Über die Demokratie in Amerika. Jahre später äußerte Otto von Bismarck in seiner Rede an die Westfalen ähnliche Gedanken.
Insofern erscheint es nicht allzu verwunderlich, dass die demokratische Aufbruchstimmung im sog. Vormärz in Westfalen zahlreiche Anhänger fand.
Als einer der ganz großen Parlamentarier der deutschen Geschichte gilt der in Osnabrück geborene Ludwig Windthorst . Hinzuzufügen ist, dass sich Windthorst, anders als der ebenfalls aus Osnabrück stammende Justus Möser, als Kind des Königreichs Hannover und nicht mehr als Westfale empfand.
Seinem Wesen nach ist Westfalen bis heute polyzentrisch gegliedert – eine Organisationsform, die im digitalen Zeitalter eine Renaissance erlebt und als Netzwerk bezeichnet wird. Auch hier gilt, dass nach Möglichkeit kein Knoten alle anderen dominieren soll. Angestrebt wird ein lockerer Verbund, in dem man sich temporär für bestimmte Aufgaben zusammenschließt. Wie so oft, gilt auch hier, dass Vergleiche nicht als mit der Wirklichkeit identisch aufgefasst werden sollten. Jedoch zeigt es, dass das westfälische Demokratie- und Staatsverständnis – nach der in diesem Beitrag gewählten (freilich überspitzten) Interpretation jedenfalls – erstaunlich modern ist 🙂
Vielleicht macht ja gerade das die Westfälische Identität aus. Im besten Sinne europäisch und an die Blütezeit der Hanse erinnernd.
Überhaupt: Eine Identität, die sich über die Jahrhunderte bewahrt hat, obwohl sie sich auf kein Zentrum im herkömmlichen Sinne stützen konnte, muss schon besonders tief verankert sein.
Weitere Informationen:
Zu einer Neuen Topographie des Politischen: Post-Westfäilsche Staatenwelt