Wer an die großen Infrastrukturen der Moderne denkt, denkt an Eisenbahnen, Telegrafie, Elektrizität. Die Post? Ein Relikt aus Opas Zeiten. Dabei war sie der heimliche Motor der Informationsgesellschaft – und ausgerechnet in Westfalen lässt sich ablesen, wie sehr gesellschaftlicher Fortschritt von der Überwindung kleinstaatlicher Zersplitterung abhängt. Die Pointe: Die Modernisierung des westfälischen Postwesens verdanken wir einem Franzosen, der die Region nur wenige Jahre beherrschte. Eine Geschichte über die Ironie des Fortschritts.
Es gibt Institutionen, deren Bedeutung sich erst in der Rückschau erschließt. Die Post gehört dazu. Wir leben heute in einer Welt, in der Information in Sekundenbruchteilen um den Globus wandert, in der die Frage nicht mehr lautet, ob eine Nachricht ankommt, sondern nur noch, welchen Kanal sie nimmt. Dass es einmal anders war, dass die zuverlässige Übermittlung von Briefen über Hunderte von Kilometern eine zivilisatorische Leistung ersten Ranges darstellte, gerät dabei leicht aus dem Blick.
Der Wirtschaftshistoriker Alfred Chandler hat in seinem Werk „A Nation Transformed by Information“ dem Postwesen eine Schlüsselrolle für den Aufstieg der USA zur führenden Wirtschaftsnation zugeschrieben. Ohne ein funktionierendes Postsystem, so Chandlers These, wäre die Koordination wirtschaftlicher Aktivitäten über große Distanzen unmöglich gewesen. Kein transkontinentaler Handel, keine nationale Marktintegration, keine Informationsgesellschaft. Die Post war die Infrastruktur, auf der alles andere aufbaute.
Auch in Westfalen spielte die Post eine entscheidende Rolle für die Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels. Doch die Geschichte des westfälischen Postwesens offenbart eine bemerkenswerte Ironie: Seine entscheidende Modernisierung verdankt es ausgerechnet einem französischen Kaiser, der die Region nur wenige Jahre beherrschte.
Als Napoleon seinen Bruder Jérôme als König von Westphalen einsetzte, brachte er französische Fachleute mit, um seine Vision eines modernen Postwesens zu verwirklichen. Was er vorfand, war typisch für das Alte Reich: Eine heillose Zersplitterung, in der deutsche Landesherren – Könige, Herzöge, Kurfürsten – auf ihre Posthoheit pochten und die von Thurn und Taxis betriebene Kaiserliche Reichspost im Laufe des 18. Jahrhunderts die Kontrolle über immer mehr Gebiete verloren hatte. Das Ergebnis war ein Flickenteppich an Postzonen, Tarifen und Zuständigkeiten, der jede Effizienz im Keim erstickte.
Die Franzosen führten ein System ein, das auf Rationalität und Vereinheitlichung setzte: Entfernungen wurden nach dem kürzesten Weg berechnet, Transitkosten durch fremde Postgebiete sollten vermieden werden, alle Briefe und Pakete wurden in Journalen und Postkarten erfasst, die zur Kontrolle mitgeschickt wurden. Was heute selbstverständlich klingt, war damals eine kleine Revolution – und sie dauerte nur wenige Jahre. Das Königreich Westphalen existierte von 1807 bis 1813.
Die eigentliche Pointe aber ist eine andere: Zum Königreich Westphalen gehörten nur wenige wirklich westfälische Städte und Gemeinden – das Bistum Paderborn, Minden-Ravensberg, die Grafschaft Rietberg-Kaunitz und Corvey. Der Name war Programm, nicht Realität. Trotzdem wurde hier der Grundstein für eine moderne Postinfrastruktur gelegt, die über das Ende der französischen Herrschaft hinaus Bestand hatte.
Dabei hatte Westfalen durchaus eigene Traditionen vorzuweisen. Die erste regelmäßig verkehrende Wagenpost wurde bereits 1663 von Postmeister Ellinghaus aus Lippstadt eingeführt, der dafür die kurfürstliche Erlaubnis erhielt. Die Route führte von Minden über Herford, Bielefeld, Lippstadt, Hamm und Lünen bis ins niederrheinische Wesel und Kleve.
Besonders aufschlussreich ist der Fall Münsters. 1643, zur Vorbereitung der Friedensverhandlungen, die den Dreißigjährigen Krieg beenden sollten, wurde hier ein Posthaus der Thurn und Taxisschen Reichspost eröffnet. An seiner Spitze stand Caspar Arninck, der erste kaiserliche Postverwalter der Stadt. Fast zwei Jahrzehnte lang, von 1643 bis 1662, leitete Arninck die Post- und Nachrichtenverbindungen Münsters – eine Zeit, in der Europa langsam aus dem verheerendsten Krieg seiner Geschichte erwachte.
Arnincks Berichte aus den Jahren 1646 und 1647 gewähren einen seltenen Einblick in die Realität des damaligen Postwesens. Sie dokumentieren nicht nur die Organisation des Nachrichtenaustausches während des Westfälischen Friedenskongresses, sondern auch die enormen Herausforderungen: unsichere Wege, unzuverlässige Boten, fehlende Standardisierung.
Die Post war unverzichtbar – aber sie funktionierte unter permanentem Druck. 1669 kam in Münster noch die fürstbischöfliche Landespost hinzu, sodass drei verschiedene Posten gleichzeitig abgingen – was eher auf administrative Redundanz als auf Effizienz hindeutet.
Im Herzogtum Westfalen entwickelte sich im 18. Jahrhundert eine bemerkenswerte Postmeister-Dynastie, die exemplarisch zeigt, wie eng das Postwesen mit anderen Modernisierungsschüben verknüpft war. Johann Wilhelm Arndts, geboren 1710 in Arnsberg, war nicht einfach nur Postmeister – er war Jurist, kurkölnischer Hofrat und leitete die Kanzlei des Herzogtums. Als Thurn und Taxisscher Postmeister trieb er den Aufbau regelmäßiger Postverbindungen voran. Doch seine eigentliche historische Bedeutung liegt woanders: 1766 war er maßgeblich an der Gründung der ersten privilegierten Druckerei und des Arnsberger Intelligenzblattes beteiligt – der ersten Zeitung im Herzogtum.
Hier zeigt sich das Entscheidende: Die Post war nicht nur ein Transportmittel für Briefe. Sie war die Voraussetzung für das Zeitungswesen, für den regelmäßigen Informationsfluss, für die Entstehung einer Öffentlichkeit, die über lokale Grenzen hinausreichte. Ohne Postnetz keine Zeitung, ohne Zeitung keine informierte Bürgerschaft. Arndts erkannte diesen Zusammenhang – und schuf beide Infrastrukturen zugleich.
Sein Sohn Engelbert, geboren 1750, setzte diese Tradition fort und erweiterte sie. Nach dem Jurastudium in Göttingen übernahm er das Amt des Kaiserlichen Postmeisters von seinem Vater. Doch auch er war weit mehr als das: Fiskaladvokat, kurfürstlicher Hofrat, Vorsitzender der Schulkommission zur Verbesserung des Bildungswesens, Leiter des Medizinalrates, Mitbegründer einer literarischen Gesellschaft. Die Arndts-Familie verkörperte eine neue Elite, die Verwaltung, Bildung, Justiz und Kommunikation als zusammenhängende Bereiche verstand. Selbst als Westfalen an Hessen-Darmstadt überging, blieb Engelbert Arndts ein zentraler Funktionsträger – ein Beleg dafür, wie sehr die neuen Herrschaften auf die Kontinuität der Fachleute angewiesen waren.
Einer der bedeutendsten Postmänner auf Reichsebene war Franz Michael Florenz von Lilien, der im Dienst von Thurn und Taxis stand. Vom Hofpagen zum Berater des Fürsten aufgestiegen, beeinflusste er maßgeblich die Entwicklung der Kaiserlichen Post und war 1755 an der Einführung der Postwagen beteiligt. Kaiser Franz I. erhob ihn 1747 in den erblichen Reichsfreiherrnstand – eine Karriere, die zeigt, welches Prestige die Post im 18. Jahrhundert besaß.
Die nächste große Zentralisierungswelle kam mit Preußen. 1850 wurde in Münster eine der ersten preußischen Oberpostdirektionen gegründet – ein Meilenstein, der die organisatorische Bedeutung Westfalens unterstrich. Fast anderthalb Jahrhunderte lang, bis zum 1. Januar 1995, war die Oberpostdirektion Münster die zentrale Verwaltungsbehörde der Post in der Region. Dann kam das Ende: Die Privatisierung der Deutschen Bundespost, ihre Aufteilung in Post, Telekom und Postbank. Was Napoleon begonnen hatte – die Rationalisierung, die Vereinheitlichung, die Zentralisierung – wurde nun durch eine neue Form der Fragmentierung abgelöst: den Wettbewerb.
Heute ist Westfalen wieder ein zentraler Knotenpunkt des Postwesens, aber unter völlig veränderten Vorzeichen. Das DHL-Paketzentrum Bochum versorgt das Ruhrgebiet mit moderner Hochleistungssortierung. In Hamm steht seit 2019 das größte DPD-Paketsortierzentrum Deutschlands. Amazon betreibt Logistikzentren in Werne und Oelde, Hermes in Greven, Borgholzhausen und Löhne. Das DHL Brief- und Logistikzentrum Herford bearbeitet täglich über eine Million Sendungen für die Postleitzahlgebiete 32 und 33. Entlang der Autobahnen und in den Industriegebieten reihen sich die Verteilzentren aneinander – über 2.600 Zustellstützpunkte gibt es bundesweit, viele davon in Westfalen.
Die Geographie hat sich nicht geändert. Westfalen liegt weiterhin verkehrsgünstig, die alten Handelsrouten von einst sind heute Autobahnen. Doch wo Napoleon Einheitlichkeit schuf, herrscht heute Pluralität. Wo einst die Oberpostdirektion Münster regierte, konkurrieren nun DHL, DPD, Hermes und Amazon. Die Post ist nicht mehr Staatsaufgabe, sondern Geschäftsmodell.
Was bleibt von dieser Geschichte? Zunächst die Einsicht, dass Modernisierung oft von außen kommt, von jenen, die nicht in den überkommenen Strukturen gefangen sind. Die deutschen Kleinstaaten mit ihrer Posthoheit verkörperten ein System, das Partikularinteressen über Gesamteffizienz stellte. Napoleon, der Zentralisierer und Rationalist, brach damit. Dass seine Herrschaft nur von kurzer Dauer war, mindert die Wirkung nicht – die Saat war gesät.
Zweitens zeigt die Geschichte des Postwesens, wie sehr gesellschaftlicher Fortschritt von Infrastruktur abhängt. Ohne ein zuverlässiges Postsystem keine überregionale Wirtschaft, keine Zeitungen, keine Koordination über Distanz. Die Berichte Caspar Arnincks aus dem 17. Jahrhundert machen das greifbar: Jede diplomatische Verhandlung, jede Handelstransaktion, jede politische Entscheidung hing davon ab, dass Nachrichten ankamen. Die Arndts-Familie in Arnsberg demonstrierte ein Jahrhundert später, wie Post, Presse und Bildung ineinandergriffen. Die Post war das Internet des 18. und 19. Jahrhunderts – und wie beim Internet galt: Wer nicht angeschlossen war, blieb außen vor.
Drittens offenbart die westfälische Postgeschichte die Bedeutung professioneller Eliten. Die Postmeister waren nicht bloße Funktionäre – sie waren Juristen, Verwaltungsfachleute, Unternehmer, Kulturträger. Sie gründeten Zeitungen, reformierten Schulen, modernisierten die Verwaltung. Das Postwesen war ein Kristallisationspunkt für gesellschaftlichen Fortschritt, weil es Menschen anzog, die über den Tellerrand ihrer unmittelbaren Aufgabe hinausblickten.
Und schließlich zeigt die Gegenwart eine neue Ironie: Die Zentralisierung, die Napoleon durchsetzte und die Preußen perfektionierte, ist wieder einer Form der Fragmentierung gewichen. Nicht der alten Kleinstaaterei, sondern dem Wettbewerb privater Anbieter. Ob das ein Fortschritt ist, wird die Zukunft zeigen. Eines aber bleibt: Westfalen ist geblieben, was es war – ein Knotenpunkt, durch den die Ströme der Information und der Waren fließen. Die Namen der Akteure ändern sich, die Funktion bleibt.
Quelle:
Die Geschichte der Post in Westfalen
