Wenn man an die Wiege der Luftfahrt denkt, fallen einem Namen wie die Gebrüder Wright oder Otto Lilienthal ein. Selten jedoch richtet sich der Blick auf eine Region, die trotz ihres Rufs für Bodenständigkeit und pragmatischen Realismus eine erstaunliche Anzahl von Luftfahrtpionieren hervorgebracht hat: Westfalen.
Diese scheinbare Paradoxie löst sich auf, betrachtet man die charakteristischen Eigenschaften westfälischer Mentalität genauer – denn gerade die sprichwörtliche Beharrlichkeit, der Innovationsgeist und die handwerkliche Präzision erwiesen sich als ideale Voraussetzungen für die Eroberung des Luftraums.
Die ersten deutschen Himmelsstürmer
Den Grundstein für Deutschlands Luftfahrtgeschichte legte ein Mann aus der westfälischen Provinz: August Euler, geboren 1868 in Oelde im Kreis Warendorf, war nicht nur der erste Deutsche, der die Pilotenscheinprüfung bestand, sondern auch ein visionärer Ingenieur, der die technischen Möglichkeiten des Fliegens früh erkannte. Seine Pioniertat war mehr als nur ein persönlicher Triumph – sie markierte den Beginn einer deutschen Luftfahrttradition, deren Wurzeln tief in westfälischem Boden verankert waren.
Nicht weniger bemerkenswert ist die Geschichte von Josef Suwelack aus Billerbeck. Bereits 1909, in den Kindertagen der Aviatik, begann dieser westfälische Tüftler mit dem Bau seiner ersten Flugapparate. Was folgte, war eine beispiellose Erfolgsgeschichte: Am 8. Dezember 1911 stellte Suwelack mit einer Flugdauer von 4 Stunden und 34 Minuten einen Weltrekord auf, der ihm internationale Anerkennung einbrachte. Als Direktor der Kondor-Flugzeugwerke GmbH ab 1912 entwickelte er Flugzeuge, die nicht nur durch herausragende Flugeigenschaften, sondern auch durch ihr innovatives Design bestachen. Tragischerweise fiel der geniale Konstrukteur im Ersten Weltkrieg, wodurch seine visionären Ideen unvollendet blieben.
Westfälische Präzision in der Luftschifffahrt
Während die einen den Himmel mit motorisierten Flugzeugen eroberten, setzten andere auf die majestätischen Luftschiffe. Hier ragte Alfred Colsman aus Werdohl im Sauerland heraus, der als Chef der Luftschiffbau-Zeppelin die deutsche Luftschifffahrt maßgeblich prägte. Colsmans Einfluss reichte weit über die reine Technik hinaus: Er war Mitgründer der Zahnradfabrik Friedrichshafen und schuf mit der Deutschen Luftschiffahrts-Aktiengesellschaft (DELAG) die erste Fluggesellschaft der Welt – ein unternehmerischer Weitblick, der die kommerzielle Luftfahrt vorwegnahm.
Zur illustren Riege westfälischer Luftfahrtpioniere gehörten auch Carl Berg, Colsmans Schwiegervater und renommierter Luftschiffbauer, sowie Otto van der Haegen, der als Zeppelin-Kommandant und Leiter der Luftschifferschule Berlin die nächste Generation von Luftschiffern ausbildete.
Innovation und technischer Fortschritt
Die westfälische Innovationskraft manifestierte sich in zahlreichen technischen Durchbrüchen. Paul Engelhard erwarb 1910 die dritte Flugzeugführererlaubnis Deutschlands und etablierte sich als einer der frühen professionellen Piloten. Arthur Deicke revolutionierte mit seinem Flugzeug ADM11 das Cockpit-Design, indem er das erste Flugzeug mit geschlossener Kanzel konstruierte – eine Neuerung, die heute selbstverständlich erscheint, damals jedoch bahnbrechend war.
Hermann Pohlmann begann seine legendäre Laufbahn bei den Junkers-Werken und entwickelte sich zu einem der angesehensten Flugzeugingenieure des 20. Jahrhunderts. Seine Arbeit zeigt exemplarisch, wie westfälische Gründlichkeit und technische Exzellenz die Luftfahrtentwicklung vorantrieben.
Anton Knubel (1857–1915, Münster) war weniger ein großindustrialiger Hersteller als ein Tüftler und Pionier, der früh das Potenzial von Flugzeugen sah: Er gründete eine kleine Flugzeugbauanstalt, experimentierte mit Ein- und Doppeldeckern, benutzte durchsichtige Bespannungen aus Cellon, um seine Fluggeräte schwieriger sichtbar zu machen – ein Gedanke, der seiner Zeit weit voraus war.
Pionierinnen und internationale Erfolge
Besonders bemerkenswert ist Thea Rasche, international bekannt als „The Flying Fräulein“. Als erste deutsche Frau mit Kunstflugschein durchbrach sie nicht nur die Geschlechtergrenze in der männerdominierten Aviatik, sondern wurde zu einer der bekanntesten deutschen Fliegerinnen aller Zeiten. Ihr Mut und ihre Entschlossenheit verkörpern den westfälischen Charakterzug, Hindernisse durch Beharrlichkeit zu überwinden.
Den wohl berühmtesten Namen westfälischer Luftfahrtgeschichte trägt William Boeing, dessen Familienursprünge in Westfalen liegen. Als Gründer der Boeing-Flugzeugwerke in Seattle schuf er ein Luftfahrtimperium, das bis heute die Weltluftfahrt prägt. Boeings Erfolg illustriert, wie westfälische Werte – Qualität, Zuverlässigkeit und langfristiges Denken – auch auf internationalem Parkett triumphieren können.
Eine weitere bedeutende Verbindung zur modernen Luftfahrt zeigt sich in der Geschichte des Airbus A380: Ein Ingenieur aus dem Kreis Paderborn spielte eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Riesenflugzeugs und kehrte nach seiner internationalen Karriere in die alte Heimat zurück, wo er sich am Paderborner Flughafen im Verein für Liebhaber historischer Flugzeuge engagiert.
Moderne Kontinuität
Diese Tradition setzt sich bis in die Gegenwart fort: Bernhard Gerwert aus Wadersloh im Kreis Warendorf war CEO von Airbus Defence and Space und Präsident des Bundesverbands der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie. Damit setzte er das westfälische Erbe in der modernen Aerospace-Industrie weiter fort.
Ein faszinierendes Detail der Luftfahrtgeschichte verbindet Westfalen sogar mit der Raumfahrt: Ein Urgroßvater von Neil Armstrong, dem ersten Menschen auf dem Mond, stammte aus Ladbergen. Friedrich Wilhelm Kötter, 1846 in Ladbergen geboren, wanderte 1865 heimlich in die USA aus – eine Auswanderung, die letztendlich zum berühmtesten „kleinen Schritt für einen Menschen“ führen sollte.
Regionale Zentren der Innovation
Die westfälische Luftfahrtgeschichte beschränkt sich keineswegs auf einzelne Pioniere, sondern erstreckte sich über verschiedene Regionen. Das Ruhrgebiet entwickelte sich zu einem entscheidenden Zentrum der deutschen Luftfahrt, wobei der Flugplatz Holten in der Nähe von Oberhausen als ältester Flugplatz des Ruhrgebiets und drittältester in Deutschland fungierte. Bemerkenswert war der 8,9 Meter hohe „Holtener Abflugturm“, der über eigens ausgegebene Zwanzig-Mark-Aktien finanziert wurde und als drehbare Startrampe optimale Startbedingungen ermöglichte.
Der Flugplatz Essen-Gelsenkirchen-Rotthausen, 1912 unter großer öffentlicher Anteilnahme eröffnet, entwickelte sich zu einem Schwerpunkt der frühen Luftfahrtentwicklung im Ruhrgebiet und beherbergte drei Flugschulen sowie die Kondor-Flugzeugwerke. Dortmund etablierte sich nach der Gründung der Flughafen Dortmund GmbH 1926 als wichtigster Luftverkehrsknotenpunkt im Westen Deutschlands, über den mehr Linienflüge gingen als über Düsseldorf und Essen.
In Münster, Paderborn und Krefeld war der Flugzeughersteller Hüffer aktiv, der trotz seiner geringeren technischen Bedeutung ein wichtiger Baustein der regionalen Luftfahrtindustrie war. Ostwestfalen-Lippe entwickelte eine eigene Luftfahrttradition, die in der Ausstellung „Ikarus Maschinen“ dokumentiert wird und ein kaum erforschtes Kapitel regionaler Sozial-, Wirtschafts-, Technik- und Mentalitätsgeschichte darstellt.
Industrielle Grundlagen: Die Aluminium-Revolution
Ein oft übersehener Aspekt westfälischer Luftfahrtgeschichte ist die frühe Entwicklung der aluminiumverarbeitenden Industrie. Von etwa 1890 bis zum Ersten Weltkrieg war der Werdohler Ortsteil Eveking der bedeutendste Standort der neuen metallverarbeitenden Aluminiumindustrie, eng verbunden mit der frühen Zeppelin-Luftschifffahrt. Das Städtedreieck Altena – Lüdenscheid – Werdohl schrieb mit zahlreichen Innovationen maßgeblich deutsche Industrie-, Technik- und Innovationsgeschichte und beeinflusste die deutsche Aluminiumindustrie nachhaltig. Diese metallurgische Kompetenz bildete das industrielle Rückgrat für den Leichtbau in der Luftfahrt.
Das westfälische Paradox
Was zunächst widersprüchlich erscheint – die Verbindung zwischen westfälischer Bodenständigkeit und luftfahrttechnischer Innovation –, erweist sich bei näherer Betrachtung als logische Konsequenz. Die charakteristische Mischung aus handwerklicher Präzision, unermüdlicher Ausdauer, technischem Innovationsgeist und kaufmännischem Weitblick schuf ideale Voraussetzungen für die Luftfahrtpioniere. Von den frühen Flugplätzen im Ruhrgebiet über die Aluminiumindustrie im Sauerland bis zu den modernen Aerospace-Zentren – Westfalen bewiesen, dass man nicht den Kopf in den Wolken haben muss, um erfolgreich in den Himmel aufzusteigen. Manchmal genügt es, mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen und dennoch zu träumen.
Quellen:
Geschichte der Luftfahrt im Ruhrgebiet
Der Hüffer-Flugzeugbau in Münster, Paderborn und Krefeld
Alfred Colsman – Pionier der deutschen Luftfahrt
Sammlung Luftfahrt.Industrie.Westfalen
Ikarus Maschinen. Luftfahrt in Ostwestfalen-Lippe
