Als 1847 die erste Eisenbahn zwischen Köln und Minden dampfte, ahnte niemand, dass dieser Moment den Beginn einer industriellen Revolution in Westfalen markieren würde. Visionäre Unternehmer, heftige Kontroversen und bahnbrechende Innovationen verwandelten eine ländliche Region in eine der bedeutendsten Eisenbahn-Landschaften Europas. Eine Geschichte von Mut, Weitblick und der unbändigen Kraft des Fortschritts.


Es war ein kalter Wintertag im Jahr 1833, als Friedrich Harkort seine Feder spitzte und Worte zu Papier brachte, die Westfalen für immer verändern sollten. Seine Schrift „Die Eisenbahn von Minden nach Cöln“ war mehr als nur ein technischer Aufsatz – sie war die Geburtsurkunde einer neuen Ära. Als erster Deutscher überhaupt wagte es der westfälische Unternehmer, öffentlich über die revolutionäre Kraft der Eisenbahn zu schreiben. Doch zwischen Vision und Realität lagen vierzehn lange Jahre voller Widerstand, Skepsis und politischer Hindernisse.

Die Geschichte der westfälischen Eisenbahn ist untrennbar mit der Familie Harkort verbunden. Während Friedrich als visionärer Schreiber die theoretischen Grundlagen legte, verkörperte sein Bruder Gustav die praktische Umsetzung dieser Träume. Der 1795 in Westerbauer geborene Gustav Harkort ging nach dem Tod seines Vaters 1820 nach Leipzig, wo er zunächst eine Spedition und Kommission aufbaute. Doch seine wahre Berufung fand er in der Eisenbahn: 1834 gehörte er zu den Gründern des Eisenbahn-Komitees, das Friedrich Lists Konzeption für ein deutsches Eisenbahn-Netz aufnahm, und leitete als Vorsitzender die Leipzig-Dresdner Eisenbahn-Compagnie von ihrer Gründung 1835 bis zu seinem Tod. Die Brüder Harkort zeigten damit exemplarisch, wie sich westfälischer Unternehmergeist über die Grenzen der Heimatregion hinaus entfalten konnte

Die Gegner der Eisenbahn malten düstere Bilder an die Wand: Kühe würden keine Milch mehr geben, hieß es, Reisende würden bei den hohen Geschwindigkeiten ersticken, und die traditionelle Ordnung würde zusammenbrechen. Doch Harkort und seine Mitstreiter ließen sich nicht beirren. David Hansemann aus Aachen, der seine Lehrjahre interessanterweise in Rheda-Wiedenbrück verbracht hatte, wurde zu einem seiner wichtigsten Verbündeten. Selbst Carl Bertelsmann, der Gründer des späteren Medienimperiums, erkannte früh die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die in den eisernen Schienen lagen.

Als schließlich 1847 die Strecke Köln-Minden eröffnet wurde, war dies nicht nur ein technischer Triumph – es war der Startschuss für eine beispiellose Entwicklung. Westfalen verwandelte sich von einer überwiegend agrarisch geprägten Region in ein industrielles Zentrum, dessen Eisenbahnnetz wie Arterien das wirtschaftliche Leben durchpulste.

Die Landschaft selbst wurde zum Zeugnis dieser Transformation. In Altenbeken entstand mit dem monumentalen Viadukt nicht nur Europas größte Kalksandsteinbrücke, sondern ein architektonisches Symbol für den Mut einer Epoche, die keine Berge und Täler als unüberwindlich betrachtete. Die kleine Stadt wurde zu einem der wichtigsten Knotenpunkte im westfälischen Eisenbahnnetz – ein Beweis dafür, dass die Eisenbahn nicht nur große Städte verband, sondern auch entlegene Orte zu Zentren des Fortschritts machen konnte.

Hamm, strategisch gelegen, entwickelte sich zu einem weiteren neuralgischen Punkt dieses wachsenden Netzes. Hier kreuzten sich die Lebenswege von Menschen und Gütern aus allen Himmelsrichtungen. Die Königlich-Westfälische-Eisenbahn-Gesellschaft trieb den Ausbau der Stammstrecke von Hamm bis Warburg voran und schuf damit eine der bedeutendsten Verkehrsadern der Region.

Doch die Eisenbahn war mehr als nur ein Transportmittel – sie wurde zu einem kulturellen Phänomen. Der Schriftsteller Levin Schücking hielt seine Reiseeindrücke zwischen Minden und Köln literarisch fest und dokumentierte damit nicht nur eine geografische, sondern auch eine emotionale Reise durch eine sich wandelnde Welt. Die Eisenbahn veränderte nicht nur die Art, wie Menschen reisten, sondern auch ihre Wahrnehmung von Raum und Zeit.

Im Siegerland dauerte es bis 1861, ehe die Strecke Betzdorf-Siegen das Eisenbahnzeitalter auch in diese bergige Region brachte. Doch einmal angekommen, entfaltete die Bahn hier eine besondere Dynamik, die eng mit der Tradition des Bergbaus und der Metallindustrie verwoben war.

Die organisatorische Intelligenz, die hinter diesem Netzwerk stand, war bemerkenswert. Eduard von Moeller wurde 1844 zum Staatskommissar der Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft berufen, gemäß dem Preußischen Eisenbahngesetz fungierte er damit als alleinige staatlicher Ansprechpartner für diese Privatbahn. In der Folge übernahm er diese Position für alle preußischen privaten Eisenbahnen in den westlichen Provinzen. Albert von Maybach kämpfte als preußischer Minister gegen die Zersplitterung in private Eisenbahngesellschaften und legte damit den Grundstein für ein effizientes, staatlich koordiniertes system. Seine Vision wurde von Männern wie Hermann Kirchhoff aus Paderborn in die Realität umgesetzt. Der 1845 geborene Jurist wechselte 1874 zur preußischen Staatseisenbahnverwaltung und stieg bis zum Ministerialdirektor auf. Unter seiner Führung entwickelte sich die preußische Staatsbahn zum weltweit größten Eisenbahnunternehmen und er trieb die weitgehende Vereinheitlichung des deutschen Eisenbahnwesens voran – ein geistiger Wegbereiter der späteren Reichsbahn. Seine Heimatstadt Paderborn ehrte den bedeutenden Sohn 1909 mit der Ehrenbürgerschaft. Wilhelm Hoff und später Fritz Busch setzten diese Tradition fort und führten sie über die Brüche der Geschichte hinweg in die Bundesbahnzeit.

Besonders bemerkenswert ist die Rolle starker Persönlichkeiten wie die der in Porta Westfalica geborenen Sophie Henschel, die nach dem Tod ihres Mannes das Unternehmen Henschel & Sohn in Kassel zu einem der größten europäischen Diesellok-Hersteller führte. Ihre Geschichte steht exemplarisch für den unternehmerischen Geist, der nicht nur die westfälische Eisenbahngeschichte prägte.

Minden wurde schließlich zum administrativen Herzen der deutschen Eisenbahn, als dort 1950 das Bundesbahnzentralamt seinen Sitz fand. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Funktionen des Berliner Reichsbahnzentralamtes zunächst nach Göttingen verlagert worden, ehe sie ihre endgültige Heimat in der westfälischen Stadt fanden. Neben München wurde Minden zu einem der beiden zentralen Standorte für die technische Entwicklung der Bundesbahn, wobei sich die westfälische Niederlassung insbesondere auf die komplexe Rangiertechnik spezialisierte. Die Stadt, die einst Endpunkt der ersten westfälischen Eisenbahnlinie war, wurde so zu einem der wichtigsten Nervenzentren des gesamten bundesrepublikanischen Schienennetzes.

Auch der Wandel der Zeit hinterließ hier seine Spuren: Mit der Bahnreform der 1990er Jahre wurde das traditionelle Bundesbahnzentralamt 1994 in das moderne Forschungs- und Technologiezentrum transformiert, das 2002 als DB Systemtechnik firmierte. Minden blieb dabei nicht nur Standort, sondern wurde sogar zum Hauptsitz des etwa 1.000 Mitarbeiter zählenden Unternehmens. Der heute dort ansässige Railcampus OWL zeigt eindrucksvoll, wie sich die Stadt von einem historischen Eisenbahnknotenpunkt zu einem zukunftsorientierten Zentrum der Bahntechnologie entwickelt hat.

Die industrielle Kompetenz, die sich über die Jahrzehnte entwickelt hatte, manifestierte sich in einer beeindruckenden Unternehmenslandschaft. Von den Ausbesserungswerken in Paderborn-Nord bis zum Weichenwerk in Witten entstanden spezialisierte Zentren der Eisenbahntechnik. Unternehmen wie die Maschinenfabrik Deutschland in Dortmund oder die Westfälische Lokomotiv-Fabrik Reuschling in Hattingen trugen das in Westfalen erworbene Know-how in die ganze Welt.

Heute knüpfen die Westfälische Landeseisenbahn und die Westfalen Bahn an diese stolze Tradition an, während Vossloh aus Werdohl als einer der weltgrößten Diesellok-Hersteller die globale Spitze der Bahntechnik repräsentierte. Die Kontinuität ist beeindruckend: Was 1833 mit Harkorts visionärer Schrift begann, lebt fort in einer der innovativsten Eisenbahn-Landschaften Europas.

Die Geschichte der westfälischen Eisenbahn ist mehr als eine Chronik technischen Fortschritts – sie ist die Erzählung einer Region, die den Mut hatte zu träumen und die Kraft besaß, diese Träume zu verwirklichen. In den Museen von Lengerich bis Siegen, von Bochum bis Minden, wird diese Geschichte lebendig gehalten, denn sie ist Teil der westfälischen Identität geworden.

Wenn heute wieder über Verkehrswende und nachhaltige Mobilität diskutiert wird, lohnt sich ein Blick zurück auf jene Pioniere, die vor fast zwei Jahrhunderten bereits erkannten: Die Zukunft liegt auf Schienen. Friedrich Harkorts Vision ist längst Realität geworden – und Westfalen bleibt eines ihrer Zentren.


Quellen:

Eisenbahnland Westfalen

Auf Schienen durch Westfalen – Meisterfotos der Eisenbahn von 1952 bis 1985

Das ehemalige Bundesbahnzentralamt Minden

Von Rolevinck

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