Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe präsentiert seinen Doppelhaushalt 2025/26 mit dem beruhigenden Versprechen, die Kommunen zu „entlasten“. Gleichzeitig verzeichnen genau diese Kommunen Rekorddefizite, die Wirtschaft stagniert, und die Prognosen der Institute werden Quartal für Quartal nach unten korrigiert. 


Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat ein Problem, das er nicht als solches bezeichnen darf. Sein Haushalt für 2025 weist Aufwendungen von 4,6 Milliarden Euro aus, ein Plus von 230 Millionen gegenüber dem Vorjahr. Für 2026 steigen die Ausgaben auf 4,8 Milliarden. Die Defizite von knapp 30 Millionen beziehungsweise 1,3 Millionen Euro sollen aus Rücklagen gedeckt werden, die dadurch auf 83 Millionen Euro schrumpfen. Soweit die Arithmetik.

Die eigentliche Pointe findet sich in den Planungsannahmen: Der LWL rechnet mit steigenden Umlagegrundlagen. Das bedeutet übersetzt, dass die Kreise und kreisfreien Städte, die den Verband über die Landschaftsumlage finanzieren, im Planungszeitraum mehr Geld haben werden als heute. Diese Annahme speist sich aus den Prognosen des Gemeindefinanzierungsgesetzes NRW, das wiederum auf der Steuerverbundmasse des Landes basiert, die ihrerseits aus den Steuerschätzungen des Bundes abgeleitet wird.

Es handelt sich um eine Kaskade der Hoffnung.

Die Wirklichkeit der Kommunen

Die Realität sieht anders aus. Die Kommunen in Nordrhein-Westfalen verzeichneten 2024 ein Defizit von 6,8 Milliarden Euro, eine Verdreifachung gegenüber dem Vorjahr. Bundesweit summieren sich die kommunalen Fehlbeträge auf knapp 25 Milliarden Euro, mit Prognosen, die auf über 35 Milliarden jährlich anwachsen. Die Gewerbesteuereinnahmen stagnieren oder sinken, während die Ausgaben für Soziales und Personal in zwei Jahren um ein Viertel gestiegen sind.

Viele Kommunen haben ihre Rücklagen bereits aufgezehrt und finanzieren laufende Ausgaben über Kassenkredite. Investitionen werden aufgeschoben, Infrastruktur verfällt, und die Handlungsfähigkeit der kommunalen Selbstverwaltung erodiert.

In dieses Umfeld hinein plant der LWL mit steigenden Einnahmen.

Die Logik des Verbundsystems

Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man die technische Konstruktion des Systems versteht. Der LWL ist ein Umlageverband. Er steht oberhalb der kommunalen Ebene und holt sich seine Einnahmen über die Landschaftsumlage von genau jenen Kommunen, die gerade finanziell kollabieren. Seine Planungsgrundlage sind nicht die tatsächlichen Kassenstände der Kreise und Städte, sondern die rechnerischen Umlagegrundlagen.

Diese Umlagegrundlagen sind ein Konstrukt des kommunalen Finanzausgleichs. Sie setzen sich im Wesentlichen aus zwei Komponenten zusammen: den Steuerkraftzahlen der Kommune, also einer normierten Größe ihrer Steuereinnahmen, und den Schlüsselzuweisungen, die sie vom Land erhält. Letztere wiederum hängen von der sogenannten Verbundmasse ab, dem Anteil an den Landessteuereinnahmen, der nach dem Gemeindefinanzierungsgesetz NRW an die Kommunen weitergereicht wird.

Wenn nun das Land seine Steuereinnahmen höher prognostiziert, steigt automatisch die Verbundmasse. Aus der höheren Verbundmasse folgen höhere Schlüsselzuweisungen, aus den höheren Schlüsselzuweisungen folgen höhere Umlagegrundlagen, und aus den höheren Umlagegrundlagen folgt, dass der LWL bei gleichbleibendem Hebesatz mehr Geld einnimmt.

Das Entscheidende ist: Diese Kette funktioniert rein rechnerisch. Eine Kommune kann formal eine höhere Umlagegrundlage ausweisen und trotzdem ein reales Haushaltsdefizit haben. Die Umlagegrundlage misst nicht, was eine Kommune tatsächlich ausgeben kann, sondern was sie nach den Formeln des Finanzausgleichs haben müsste. Dass zwischen dem normierten Soll und dem realen Ist eine wachsende Lücke klafft, erscheint im System nicht.

Hinzu kommt ein Zeitversatz: Die Steuerkraftzahlen, die in die Berechnung eingehen, basieren auf Daten vergangener Jahre. Eine Kommune, deren Gewerbesteuereinnahmen gerade einbrechen, kann noch Jahre lang mit Umlagegrundlagen belastet werden, die eine bessere Vergangenheit widerspiegeln.

Der LWL nutzt diesen Mechanismus, um von „Entlastung“ zu sprechen. Er senkt den Hebesatz der Landschaftsumlage auf 17,9 Prozent für 2025, was gegenüber einem noch höheren geplanten Satz eine Einsparung von 35 Millionen Euro für die Kommunen bedeutet. Das ist keine Entlastung im absoluten Sinne, sondern eine relative Schonung innerhalb eines Systems, das mit Durchschnittswerten und Formeln operiert, nicht mit der konkreten Haushaltslage vor Ort.

Das Prognoseproblem

Die tiefere Frage ist, ob die Annahme steigender Steuereinnahmen, auf der das gesamte Konstrukt beruht, überhaupt belastbar ist. Die Erfahrung der letzten Jahre spricht dagegen. Die großen Wirtschaftsinstitute haben ihre Wachstumsprognosen für Deutschland wiederholt nach unten korrigieren müssen, teils mehrfach innerhalb eines Jahres.

Das ifo-Institut erwartete für 2024 ursprünglich ein Wachstum von 0,4 Prozent. Tatsächlich schrumpfte die Wirtschaft erneut. Die Prognose für 2025 wurde von 1,5 Prozent auf unter ein Prozent zurückgenommen, mit weiterem Abwärtspotenzial. Das IW Köln arbeitet inzwischen mit Szenarien, in denen Deutschland auch 2025 faktisch stagniert.

Die systematische Tendenz zur Überschätzung von Wachstum ist in der Forschung dokumentiert. Sie hat strukturelle Ursachen: Die Modelle unterschätzen regelmäßig die Persistenz von Krisen, die Wirkung von Unsicherheit auf Investitionen und die Trägheit von Strukturwandel. In einer Wirtschaft, die mit Deindustrialisierung, Energiepreisschocks und geopolitischen Verwerfungen kämpft, sind optimistische Prognosepfade nicht Vorsicht, sondern Wunschdenken.

Schönrechnerei als Systemmerkmal

Wer seine Haushalte auf Basis solcher Prognosen plant, produziert keine Stabilität, sondern eine Illusion von Stabilität. Die Konsequenzen werden sichtbar, wenn die realen Einnahmen hinter den Annahmen zurückbleiben, wenn die Rücklagen aufgezehrt sind, wenn die Umlage doch erhöht werden muss, um die Lücke zu schließen.

Der LWL steht damit exemplarisch für ein Phänomen, das die deutsche Haushaltsplanung insgesamt prägt: die Technik des formalen Ausgleichs bei materieller Unterfinanzierung. Solange die Formeln stimmen, solange die Prognosen auf dem Papier Zuwächse ausweisen, solange die Defizite aus Rücklagen gedeckt werden können, gilt der Haushalt als solide.

Dass die Kommunen, die das System tragen sollen, längst an der Belastungsgrenze operieren, erscheint in dieser Logik als externes Problem, als Vollzugsdefizit der unteren Ebene, nicht als Systemversagen.

Die politische Funktion der Prognose

Die Verbandsverwaltung operiert innerhalb eines Rahmens, den sie nicht selbst gesetzt hat. Sie übernimmt die Prognosen des Landes, weil sie keine anderen hat. Sie plant mit steigenden Umlagegrundlagen, weil das Gemeindefinanzierungsgesetz sie so ausweist.

Die politische Funktion dieser Prognosen ist jedoch klar: Sie ermöglichen es, Haushalte aufzustellen, die formal ausgeglichen sind, ohne die Grundsatzfrage zu stellen, ob die Aufgaben- und Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern, Kommunen und Umlageverbänden noch funktioniert. Die Antwort auf diese Frage wäre unbequem. Sie würde entweder höhere Transfers von oben nach unten erfordern oder eine grundlegende Reduzierung von Aufgaben, die politisch niemand verantworten will.

Also plant man weiter mit steigenden Einnahmen und hofft, dass die Wirklichkeit irgendwann den Prognosen folgt.

Ausblick

Die Wirtschaftsinstitute werden ihre Prognosen auch in den kommenden Monaten korrigieren. Das lehrt die Vergangenheit. Die strukturellen Probleme der deutschen Wirtschaft, der Investitionsstau, die Energiekosten, die demografische Entwicklung, der Fachkräftemangel, sind nicht konjunktureller Natur und werden nicht durch ein oder zwei bessere Quartale verschwinden.

Für die Kommunen in Westfalen bedeutet das: Die Entlastung, die der LWL verspricht, ist ein Aufschub, keine Lösung. Die Rücklagen des Verbands werden schrumpfen, die Umlagegrundlagen werden nicht so steigen wie geplant, und am Ende wird die Umlage doch erhöht werden müssen, oder die Leistungen werden gekürzt, oder beides.

Das System funktioniert, solange alle so tun, als funktioniere es. Die Frage ist nur, wie lange das noch gutgeht.


Quellen

LWL-Doppelhaushalt 2025/2026 (Hebesätze, Aufwendungen, Defizit, Ausgleichsrücklage):
https://www.lwl.org/pressemitteilungen/nr_mitteilung.php?urlID=60502​

Nachtrag / Entlastung 2026, Bezug auf „positive Entwicklungen bei den Umlagegrundlagen“:
https://www.lwl.org/pressemitteilungen/nr_mitteilung.php?urlID=62801​

Vorbericht / Anlagen LWL-Haushalt 2025/26 (Annahmen zu Umlagegrundlagen, Risiken):
https://www2.lwl.org/media/filer_public/d3/88/d38835eb-7315-46b7-961d-2350664893e8/4_entwurf_vorbericht_und_sonstige_anlagen_202_2026.pdf​

Kommentar / Darstellung Doppelhaushalt im Westfalenspiegel (Hebesätze, 4,6–4,8 Mrd. Etat):
https://www.westfalenspiegel.de/lwl-beschliesst-doppelhaushalt/​

Herbst-Steuerschätzung 2025 für NRW (Mehreinnahmen 2025, mittelfristige Risiken):
https://www.finanzverwaltung.nrw.de/uebersicht-rubrik-aktuelles-und-presse/pressemitteilungen/ergebnis-der-herbst-steuerschaetzung-2025-fuer-nordrhein-westfalen​

Bericht zur kommunalen Finanzkrise / Defizit-Prognose >35 Mrd. Euro:
https://www.landkreistag.de/presseforum/pressemitteilungen/3470-finanzprognose-2025-kommunalhaushalte-kollabieren​

Destatis: Kommunales Finanzierungsdefizit 1. Halbjahr 2025 (Defizit, Ausgaben/Einnahmen-Dynamik):
https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2025/10/PD25_358_71137.html​

ifo / IW / Konjunktur- und Prognosekorrekturen (Wachstum nach unten revidiert):

Beispiel ifo-Senkung der Prognose 2024/25:
https://www.n-tv.de/wirtschaft/Wirtschaft-in-Deutschland-Ifo-Institut-senkt-Prognose-fuer-2024-und-2025-article25206535.html​

Aktuelle erneute Abwärtskorrektur:
https://www.n-tv.de/wirtschaft/Wirtschaftswachstum-in-Deutschland-Ifo-Institut-senkt-Prognose-id30130735.html​

Kommunale Spitzenverbände / Städte- und Gemeindetag zu kollabierenden Haushalten:
https://www.staedtetag.de/presse/pressemeldungen/2025/prognose-kommunalfinanzen-kommunalhaushalte-kollabieren-bislang-undenkbare-einschnitte​

GFG/Gemeindefinanzierung 2026 NRW auf Rekordniveau (Verbundmasse, politische Kommunikation):
https://www.daniel-hagemeier.de/presse/lokal/432/Gemeindefinanzierung-2026-auf-Rekordhoch.html​

Von Rolevinck

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