Als die Leineweber arbeitslos wurden, griffen sie zum Tabakblatt. Bünde, eine Kleinstadt im Ravensberger Land, stieg im 19. Jahrhundert zum Zentrum der deutschen Zigarrenproduktion auf. Jede dritte Zigarre kam zeitweise von hier. Dann kam der Niedergang – und heute erinnert nur noch ein Museum an die Epoche, als der blaue Dunst die Region ernährte.


Die Geschichte der Bünder Zigarrenindustrie beginnt mit einem Ende. Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Leinenindustrie in der Region Minden-Ravensberg zusammenbrach, standen Tausende Spinner und Weber ohne Arbeit da. Die Mechanisierung hatte ihren Broterwerb vernichtet. Was folgte, war kein staatliches Konjunkturprogramm, sondern unternehmerische Initiative aus der Region selbst.

Tönnies Wellensiek, ein Mann aus Bünde, hatte das Zigarrenmachen in Bremen gelernt und erkannte die Gelegenheit. 1843 eröffnete er die erste Zigarrenmanufaktur am Ort. Die arbeitslosen Textilarbeiter brachten mit, was die neue Branche brauchte: geschickte Hände, Disziplin und die Bereitschaft, für wenig Geld viel zu arbeiten. Bereits sechs Jahre später, 1849, zählte man in der Region 28 Betriebe mit 886 Beschäftigten. Der Grundstein für einen der bemerkenswertesten Industriezyklen Westfalens war gelegt.

Die Standortfaktoren begünstigten das Wachstum. Die Weser bot einen Transportweg für den Rohstoff Tabak, der aus Übersee kam. Als die Eisenbahn das Ravensberger Land erschloss, verbesserten sich die Verbindungen zu den Absatzmärkten weiter. Vor allem aber war Arbeit billig. Die Heimarbeit dominierte das Gewerbe, und in den Stuben der kleinen Leute rollten Frauen und Kinder Zigarren für einen kargen Lohn. Es war Proto-Industrialisierung in ihrer reinsten Form – dezentral, arbeitsintensiv, auf Masse ausgelegt.

Die Zahlen der Blütezeit beeindrucken noch heute. Bis 1862 produzierte Bünde allein 80 Millionen Zigarren jährlich. Um die Jahrhundertwende beschäftigten mehr als 100 Fabriken in der Stadt über 3.000 Arbeiter. Im gesamten Kreis Herford stieg die Zahl der Betriebe auf 190 mit rund 9.000 Beschäftigten. 1912 fertigten 46 Fabriken in Bünde Zigarren. Die kleine Stadt hatte sich zum Zentrum einer ganzen Branche entwickelt, und dieser Rang hielt sich erstaunlich lange: Noch 1990 stammte jede dritte in Deutschland hergestellte Zigarre aus der Region.

Doch der Niedergang hatte längst begonnen. Zolländerungen und Steuerreformen trafen die Branche bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Der Zweite Weltkrieg brachte Kontingentierungen und Qualitätsverluste. Entscheidender aber war die Verschiebung der Konsumgewohnheiten. Nach 1945 rauchte Deutschland zunehmend Zigaretten und allenfalls noch Zigarillos. Die handgerollte Zigarre wurde zum Nischenprodukt.

Die Mechanisierung, die einst die Leineweber arbeitslos gemacht hatte, holte nun die Zigarrenmacher ein. Ab den 1950er Jahren schrumpfte die Branche rapide. Von über 800 Tabakbetrieben in Westfalen im Jahr 1950 blieben bald nur noch 464 übrig. In Bünde selbst sank die Beschäftigtenzahl von 8.502 im Jahr 1958 auf 1.789 im Jahr 1976 – ein Rückgang um fast 80 Prozent innerhalb von nicht einmal zwei Jahrzehnten. Die Konzentration auf wenige Großbetriebe verdrängte die kleinen Manufakturen, und die Heimarbeit verschwand vollständig.

Heute erinnern das Deutsche Tabak- und Zigarrenmuseum sowie das Zollamt in Bünde an diese Epoche. Das Museum bewahrt das Gedächtnis einer Industrie, die selbst aus den Trümmern einer anderen entstanden war. Das Zollamt hingegen ist noch immer in Betrieb – eine funktionierende Behörde, deren Existenz in einer Kleinstadt wie Bünde nur aus der einstigen Bedeutung des Tabakhandels zu erklären ist, der staatliche Präsenz vor Ort erforderte. Die Zigarrenmacher von Bünde hatten die Krise der Leineweber aufgefangen – doch für ihren eigenen Niedergang fand sich kein vergleichbares Auffangbecken. Der Strukturwandel, der einst die Branche hervorgebracht hatte, machte sie am Ende selbst zum historischen Exponat.


Quellen

LWL – Industriekultur OWL, Museum Bünde (Kurzüberblick zur Zigarrenregion, Zahlen zu Betrieben und Beschäftigten):
https://www.lwl.org/industriekultur-owl/site/museum/museum.php-id=32.html​

„150 Jahre Zigarren aus Bünde“ – Hintergrundartikel mit vielen historischen Details (Region Minden-Ravensberg, Entwicklung bis ins 20. Jh.):
http://www.mein-kleiner-rauchsalon.de/lev4_art_150jahre.htm​

Westfälische Hanse – „Zigarren: Handel im Wandel“ (Rolle Bündes als Zentrum der deutschen Tabakindustrie, Produktionszahlen):
https://www.westfaelische-hanse.de/erleben/zigarren-handel-im-wandel/​

Bünde Lokal – „Vom Salzhandel zur Zigarrenstadt“ (lokale Stadtgeschichte, Rolle der Zigarrenindustrie im 19./20. Jh.):
https://buende-lokal.de/buende-geschichte/​

„Die Zeit von Tabak und Zigarren“ – Geschichtsroute im Kreis Herford (Bünde als „Zigarrenstadt“ / „Zigarrenkiste Deutschlands“):
https://www.fahr-im-kreis.de/alle-touren/geschichtsrouten/route2-die-zeit-von-tabak-und-zigarren​

Deutsches Tabak- und Zigarrenmuseum Bünde (Museum, Überblick zur Industriegeschichte Minden-Ravensberger Land):
https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsches_Tabak-_und_Zigarrenmuseum​

Museum Bünde – Deutsches Tabak- und Zigarrenmuseum (offizielle Museumsseite, Ausstellungsbeschreibung „Braunes Gold“):
https://www.fahr-im-kreis.de/sehenswuerdigkeiten/sehenswuerdigkeiten-in-buende/museum-buende-mit-deutschem-tabak-und-zigarrenmuseum​

Westfalenspiegel – „Zigarrenstadt Bünde und die Geschichte des Glimmstängels“ (journalistischer Überblick, Strukturwandel):
https://www.westfalenspiegel.de/zigarrenstadt-bunde-und-die-geschichte-des-glimmstangels/​

 

Von Rolevinck

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