Die archäologische Spurensuche einer Region zwischen lokaler Bodenständigkeit und globaler Wissenschaft
Vom Neandertaler-Schädel in Warendorf bis zur White Lady in Namibia, von der Steinzeit-Siedlung bei Bad Sassendorf bis zu den Milet-Ausgrabungen in der Türkei: Westfalen hat eine bemerkenswerte Tradition archäologischer Forschung hervorgebracht. Während die Region selbst 80.000 Jahre Menschheitsgeschichte birgt und ständig neue Funde liefert, haben ihre Forscher die Grenzen längst überschritten – und dabei eine eigentümliche Spannung zwischen provinzieller Verwurzelung und globaler Wirkung geschaffen.
Die Archäologie ist eine Wissenschaft der langen Perspektiven. 2,5 Millionen Jahre kultureller Menschheitsentwicklung bilden ihren Untersuchungsgegenstand – ein Zeitrahmen, der jede Gegenwartsfixierung zur Belanglosigkeit schrumpfen lässt. Doch gerade in dieser extremen Tiefenperspektive offenbart sich ein paradoxes Muster: Je weiter die Archäologie zeitlich zurückreicht, desto stärker bleibt sie regional verankert. Denn Bodenfunde lassen sich nicht verlagern, und wer die Vergangenheit verstehen will, muss dort graben, wo sie liegt.
Westfalen bietet hierfür ein aufschlussreiches Fallbeispiel. Die ältesten Belege urgeschichtlicher Menschen in der Region – das Schädelfragment eines Neandertalers aus Warendorf – reichen 80.000 Jahre zurück. Erst in jüngster Zeit wurden bei Hagen Überreste des modernen Menschen entdeckt, ein Fund von nationaler Bedeutung. Dass aus derselben Stadt eine „Botschafterin für die Jungsteinzeit“ stammt, illustriert die zeitliche Spannweite archäologischer Arbeit: Von den ältesten Menschheitsspuren bis zur systematischen Vermittlung jungsteinzeitlicher Kulturen reicht das Spektrum. Bei Bad Sassendorf wurde erst vor wenigen Jahren eine Steinzeit-Siedlung entdeckt, und in Salzkotten entpuppte sich eine vermeintliche „Baumleiche“ als wertvoller Zeitzeuge – Beispiele dafür, wie fragmentarisch und zufallsabhängig die Rekonstruktion der Vergangenheit bleibt. Was gefunden wird, hängt davon ab, wo gegraben wird – und das wiederum von Bauvorhaben, Forschungsinteressen und nicht zuletzt von der Existenz engagierter Forscher vor Ort.
Wilhelm Winkelmann, der als Entdecker der Paderborner Kaiserpfalz zum bundesweit bekannten „Ausgräber“ wurde, verkörpert diesen Typus des regional verwurzelten, aber überregional wirkenden Archäologen. Sein Beiname deutet auf eine handwerkliche Dimension der Wissenschaft hin, die in der heutigen theorielastigen Forschungslandschaft leicht vergessen wird: Archäologie beginnt mit körperlicher Arbeit im Boden, mit geduldiger Freilegung und akribischer Dokumentation. Die Paderborner Kaiserpfalz – Machtzentrum karolingischer Herrschaft – wäre ohne solche Hartnäckigkeit ein weißer Fleck in der deutschen Geschichtsschreibung geblieben.
Interessanter noch als diese Kontinuität lokaler Forschung ist jedoch die Mobilität und thematische Breite westfälischer Archäologen. Die Liste der Namen liest sich wie ein Who’s Who der deutschsprachigen Altertumswissenschaft des 20. Jahrhunderts: Theodor Klauser und Ernst Dassmann in der christlichen Archäologie, Friedrich Rakob als Bauforscher, Norbert Kunisch und Klaus Stähler in der klassischen Archäologie, Wolfgang Erhardt und Gundolf Precht in der provinzialrömischen Forschung. Peter Noelke, Karl Heinz Brandt, Friedrich Koepp, Dieter Hertel – die Aufzählung ließe sich fortsetzen und würde doch nur andeuten, welche Dichte an archäologischer Expertise diese Region hervorgebracht hat.
Matthias Wemhoff, lange in Paderborn tätig, leitet heute das Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte. Reinhard Maack wurde durch die Entdeckung der White Lady in Namibia international bekannt. Friedrich Karl Dörner gründete 1968 in Münster die Forschungsstelle Asia Minor und etablierte damit einen Schwerpunkt kleinasiatischer Archäologie. Oscar Reuther arbeitete als Grabungsarchitekt bei den Babylon-Ausgrabungen Robert Koldeweys und bei Theodor Wiegands Freilegung des Heraion von Samos. Peter Calmeyer spezialisierte sich auf den Vorderen Orient, Hans-Peter Uerpmann auf archäozoologische Forschung, Thomas Terberger auf das Paläolithikum und Mesolithikum.
Diese geografische und thematische Diversität wirft eine systematische Frage auf: Warum entwickelt eine vergleichsweise periphere deutsche Region eine solche Ausstrahlung in die archäologische Welt? Eine mögliche Erklärung liegt in der institutionellen Infrastruktur. Die Universität Münster beherbergt nicht nur die Forschungsstelle Asia Minor, sondern auch ein Institut für Ägyptologie und Koptologie. Die Ruhr-Universität Bochum führt seit fünf Jahren wieder die Ausgrabungsleitung in Milet, einer der bedeutendsten Metropolen der Antike – unter der Leitung von Christof Berns ein Beispiel dafür, wie westfälische Institutionen internationale Großprojekte koordinieren. Solche Strukturen schaffen Ausbildungstraditionen und Forschungsnetzwerke, die über Generationen hinweg wirken.
Eva Strommenger in der vorderasiatischen Archäologie, Friedhelm Prayon als führender Etruskologe, Constantin Koenen als vielseitiger Altertumsforscher, Andreas Heege in der historischen Archäologie, Friederike Fless in der klassischen Archäologie – sie alle stehen für eine Spezialisierung, die das Lokale transzendiert. Claus-Michael Hüssen und Uwe Lobbedey haben sich in der Bauforschung und mittelalterlichen Archäologie verdient gemacht. Ernst Friedrich Mooyer und Wilhelm Barth trugen als Redakteur zur Vermittlung archäologischen Wissens bei.
Bemerkenswert ist auch die thematische Bandbreite. Peter Pieper hat sich als Forensischer Archäologe einen Namen gemacht – eine Disziplin, die archäologische Methoden auf juristische Fragestellungen anwendet und damit die traditionellen Grenzen der Altertumskunde überschreitet. Dass in Westfalen die älteste Glockengießergrube Deutschlands gefunden wurde, zeigt die Bedeutung auch für die mittelalterliche Handwerksgeschichte. Die historische Ziegelei, die als „beste in Westfalen“ ausgezeichnet wurde, steht für Industriearchäologie. Und die Frage, ob ein Erdhügel bei Warstein ein Huldigungsort für die Götter war, illustriert jene methodischen Unsicherheiten, mit denen sich die Disziplin ständig konfrontiert sieht.
Das LWL-Museum für Archäologie in Herne fungiert dabei als regionales Wissenszentrum, das die 250.000 Jahre westfälische Menschheitsgeschichte vermittelt. Die jährlich erscheinende Publikation „Archäologie in Westfalen-Lippe“ dokumentiert aktuelle Forschungsergebnisse und macht die Kontinuität archäologischer Arbeit sichtbar. Ergänzt wird diese institutionelle Landschaft durch den Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, das Historische Centrum Hagen und die Gesellschaft zur Förderung der Archäologie in Ostwestfalen. Diese Strukturen bilden ein dichtes Netzwerk, das Forschung, Vermittlung und bürgerschaftliches Engagement verbindet – und das durch „Zugänge zu Archäologie, Bauforschung und Kunstgeschichte“ bewusst Interdisziplinarität fördert.
Was sich in dieser Konstellation abzeichnet, ist ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen Bodenständigkeit und Weltläufigkeit. Die Archäologie benötigt lokale Verankerung – ohne regionale Institutionen, engagierte Heimatforscher und systematische Bodendenkmalpflege würden wichtige Funde unentdeckt bleiben. Die Steinzeit-Siedlung bei Bad Sassendorf wäre überbaut, der Zeitzeuge von Salzkotten entsorgt, die Glockengießergrube zerstört worden. Gleichzeitig erfordert die Disziplin globale Vergleichsperspektiven, interdisziplinäre Theorien und internationale Kooperation. Die Milet-Ausgrabungen aus Bochum, die Asia-Minor-Forschung aus Münster, die weltweiten Tätigkeitsfelder westfälischer Archäologen zeigen, dass wissenschaftliche Expertise nicht an regionalen Grenzen haltmacht.
Westfalens archäologische Tradition demonstriert, dass diese scheinbar widersprüchlichen Anforderungen produktiv kombiniert werden können. Die Region liefert nicht nur kontinuierlich Material für die Geschichtsschreibung – von der Steinzeit bis zur Industrialisierung –, sondern auch Forscher, die dieses Material in größere Zusammenhänge einordnen und zugleich internationale Forschungsprojekte leiten. Die schiere Anzahl namhafter Archäologen, die aus dieser Region stammen oder dort gewirkt haben, lässt sich nicht durch Zufall erklären. Sie deutet auf ein systematisches Phänomen hin: eine Forschungskultur, die Gründlichkeit mit Offenheit verbindet, die lokale Bodenständigkeit nicht als Begrenzung, sondern als Ausgangspunkt versteht.
Vielleicht liegt gerade in dieser Doppelstruktur – fest verwurzelt im westfälischen Boden, aber mit Blick auf Babylon, Milet, Namibia und Kleinasien – eine spezifische Form wissenschaftlicher Produktivität, die weder provinzielle Selbstgenügsamkeit noch wurzelloser Kosmopolitismus ist, sondern eine Balance zwischen beiden Extremen. Die aktuelle Forschungsdichte, dokumentiert in den regelmäßigen Publikationen und neuen Funden, zeigt: Diese Tradition ist keine historische Episode, sondern eine lebendige Praxis. Während andernorts Geisteswissenschaften marginalisiert werden, behauptet sich in Westfalen eine archäologische Infrastruktur, die vom Ehrenamt bis zur internationalen Spitzenforschung reicht – und damit einen Gesellschaftsbereich repräsentiert, der Langfristdenken institutionalisiert hat, weil er mit Zeiträumen arbeitet, in denen Jahrhunderte zur Marginalie werden.
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