Metropolen gelten als Orte der Zukunft, das Dorf als Relikt. Doch diese Sichtweise verkennt, dass Innovation oft gerade in der Provinz entsteht – und dass Stadt und Land aufeinander angewiesen sind. Ein Plädoyer für die Gleichwertigkeit zweier Lebensformen.
Die urbane Faszination ist ein intellektueller Fetisch. So formulierte es die Zeitschrift für Ideengeschichte im Jahr 2015 zum Themenschwerpunkt „Dorf“. Eine provokante These, die gleichwohl einen wahren Kern trifft. Denn in der öffentlichen Debatte erscheint das Dorf bestenfalls als Problemzone: mangelhafter ÖPNV, Ärztemangel, schwindende Infrastruktur, leerstehende Ladenlokale. Eine SWR-Dokumentation über das Landleben in Rheinland-Pfalz zeigte jüngst das ganze Panorama dieser Krisenerzählung – bis hin zur Geburt eines Kindes im Auto, weil die nächste Klinik zu weit entfernt lag.
Und doch greift diese Verfallsdiagnose zu kurz. Sie übersieht die innere Kraft, die dem Dorf als Organisationsform innewohnt. Der Kulturgeograph Gerhard Henkel, ein gebürtiger Westfale und ausgewiesener Kenner ländlicher Räume, hält wenig von den Untergangsszenarien. In seinem Buch „Das Dorf“ hat er seine Erfahrungen zusammengefasst. Seine Grundthese: Das Dorf ist zählebiger, als die Zukunftsforscher annehmen.
Die schöpferische Peripherie
Die Diskussion über das Verhältnis von Stadt und Land ist nicht neu. Bereits Georg Simmel beschrieb in seinem heute noch lesenswerten Essay „Die Grosstädte und das Geistesleben“ die Vorzüge urbaner Existenz: die Fülle an Anregungen, die kulturelle Verdichtung, die Möglichkeit zur Individualisierung. Die Großstadt als Ort geistiger Freiheit – dieses Bild prägt bis heute das Selbstverständnis metropolitaner Milieus.
Und doch kommen viele Neuerungen gerade nicht aus den Zentren, sondern aus der Provinz, aus der Peripherie. Der Kulturwissenschaftler Egon Friedell prägte dafür den Begriff der „Schöpferischen Peripherie“. Innovation entsteht oft dort, wo man nicht permanent dem Konformitätsdruck großstädtischer Szenen ausgesetzt ist. Die viel zitierten Hidden Champions liefern dafür das empirische Material: Weltmarktführer, die in Ostwestfalen oder Südwestfalen über Generationen gewachsen sind, ohne je nach Berlin oder München zu ziehen. Unternehmen wie Miele, Claas oder Hella, die ihre Wurzeln in überschaubaren Gemeinschaften haben und dort geblieben sind.
Irgendwie muss die Provinz eine Umgebung liefern, die bestimmten Formen der Kreativität zuträglich ist. Das „Dorfauge“, jene soziale Kontrolle der Überschaubarkeit, hat eben auch seine produktive Kehrseite: Vertrauen, Verlässlichkeit, lange Zeithorizonte. Es ist kein Zufall, dass die Genossenschaftsbewegung ihren Ursprung im ländlichen Raum hatte. Raiffeisen und Schulze-Delitzsch schufen ihre Modelle aus der konkreten Erfahrung dörflicher Gemeinschaften heraus.
Stadt und Land als Synergiesystem
Der Alpenforscher Werner Bätzing hat in seinem Buch „Das Landleben“ die Interdependenz von Stadt und Land herausgearbeitet. Während die Stadt auf Spezialisierung und zentrale Organisation setzt, zeichnet sich das Land durch Multifunktionalität und Dezentralität aus. Beide Prinzipien sind aufeinander bezogen – nicht als Gegensätze, sondern als zwei Seiten einer Medaille.
Der entscheidende Unterschied liegt in der Wahrnehmung von Zusammenhängen. In der Großstadt erscheinen die Bereiche Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft als getrennte Sphären, die bestenfalls von Experten in ihrer Wechselwirkung verstanden werden. Im ländlichen Raum dagegen erfährt man täglich, wie diese Bereiche miteinander verflochten sind. Das Dorf relativiert damit die großstädtische Sichtweise, die Welt bestehe nur aus atomisierten Einzelbereichen.
Bätzing betrachtet die Tendenz zur Verstädterung des Landlebens mit Sorge. Die sogenannten Zwischenstädte – weder Dorf noch Stadt – sind häufig nur als Wohnort gefragt. Das eigentliche gesellschaftliche Leben spielt sich anderswo ab. Damit geht verloren, was das Landleben auszeichnet: die Einheit von Wohnen, Arbeiten und Gemeinschaft.
Das Paradox der Digitalisierung
Paradoxerweise könnte ausgerechnet die Digitalisierung dem ländlichen Raum neue Perspektiven eröffnen. Mit der Verbreitung von Breitbandanschlüssen, durch steigende Mieten und Immobilienpreise in den Städten könnte das Dorf wieder Zulauf finden. Remote Work ermöglicht es, die Vorzüge des Dorflebens mit städtischen Arbeitsmärkten zu verbinden.
Zugleich ist der ländliche Raum längst zum eigentlichen Schauplatz der digitalen Infrastruktur geworden. Fast alle großen Serverfarmen, die für die Cloud-Dienste von Google, Amazon und Microsoft benötigt werden, sind auf dem flachen Land angesiedelt. Christoph Engemann spricht vom „Auszug des Digitalen ins Grüne“. Was die Nutzer in den Metropolen auf ihren Geräten sehen, verweist sie physisch aufs Land, auf die „Landhelds“, wie Engemann sie nennt.
Doch gerade dort, wo die Digitalisierung neue Möglichkeiten schaffen könnte, scheitert sie häufig an der mangelhaften Infrastruktur. Der Breitbandausbau kommt im ländlichen Raum nur schleppend voran. Es ist ein weiteres Beispiel für die Implementierungslücke zwischen politischer Rhetorik und tatsächlicher Umsetzung.
Die Rolle der Regionalbanken
Eine besondere Bedeutung kommt den Regionalbanken zu. Raiffeisenbanken und Sparkassen verfolgten lange das Ziel, das Wirtschaften im ländlichen Raum zu fördern. Die Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe – ob in der Energiewirtschaft, der Landwirtschaft oder der additiven Fertigung – geht mit erheblichem Finanzierungsbedarf einher. Regionale Betriebe benötigen Kreditgeber, die ihre spezifischen Bedingungen verstehen.
Doch die Regionalbanken ziehen sich weiter aus der Fläche zurück. Fusionen verstärken die Zentralisierungstendenzen. Entscheidungen werden immer seltener vor Ort, sondern in den Zentralen gefällt, häufig vollautomatisch. Die räumliche Entfernung sorgt für Entfremdung. Regionsspezifische Besonderheiten werden aus der Betrachtung ausgeblendet. Es ist die institutionelle Entsprechung zum allgemeinen Infrastrukturverfall.
Ein westfälisches Modell
Gerade Westfalen zeigt, dass polyzentrische Strukturen mit mittelstädtischen Ankern und vitalen Dörfern oft resilienter sind als die Monokultur der Metropole. Die Regionen Ostwestfalen und Südwestfalen zählen bundesweit zu denen mit der höchsten Dichte an Weltmarktführern. Ein intaktes Dorfleben in Verbindung mit Städten, die nicht allzu weit entfernt liegen, ist eine Kombination, die nicht nur Charme, sondern auch Zukunft hat.
Anstatt Dorf- und Stadtleben gegeneinander auszuspielen, käme es darauf an, ihre fortlaufenden Interdependenzen zu betonen. Stefan Höhne hat in seinem Essay „Die Idiotie des Stadtlebens“ daran erinnert, dass beide Lebensformen Ausdruck arbeitsteiliger Prozesse innerhalb einer gesamtgesellschaftlichen Dynamik sind. Stadt und Land sind gleichwertig – dieser Ansicht dürfte nicht nur Gerhard Henkel sein.
Das Dorf wird nicht verschwinden. Es hat die Industrialisierung überstanden, die Motorisierung, die erste Landflucht. Seine innere Kraft liegt in der Überschaubarkeit, im Zusammenhalt, in der Fähigkeit zu gemeinsamen Aktionen. Das sind keine romantischen Relikte, sondern Organisationsprinzipien, die auch in einer digitalisierten Welt ihren Wert behalten. Die Zukunft liegt nicht in den Metropolen allein. Sie liegt im produktiven Zusammenspiel von Zentrum und Peripherie.
Quellen:
Werner Bätzing: Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform
C.H. Beck, München 2020, 302 Seiten
ISBN: 978-3-406-74825-7
https://www.chbeck.de/baetzing-landleben/product/28802818
Gerhard Henkel: Das Dorf. Landleben in Deutschland – gestern und heute
Theiss Verlag, Darmstadt 2020, 4. Auflage, 365 Seiten
ISBN: 978-3-8062-3984-3
https://www.gerhardhenkel.de/standardwerk-das-dorf/
Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben
Erstveröffentlichung 1903, diverse Neuausgaben
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main (Essenzen-Reihe)
https://www.suhrkamp.de/buch/georg-simmel-die-grossstaedte-und-das-geistesleben-t-9783518068571
Volltext bei Projekt Gutenberg:
https://www.projekt-gutenberg.org/simmel/grosstad/grosstad.html
Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit
C.H. Beck, München (Erstausgabe 1927–1931, Neuausgabe als Einbänder)
ISBN: 978-3-406-56462-8
https://www.chbeck.de/friedell-kulturgeschichte-neuzeit/product/16412
Zeitschriftenartikel
Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft IX/2, Sommer 2015: Das Dorf
Herausgegeben von Philip Ajouri, Wolfert von Rahden, Andreas Urs Sommer
C.H. Beck, München 2015
ISBN: 978-3-406-67382-5
Enthält u.a.:
Stefan Höhne: Die Idiotie des Stadtlebens
Christoph Engemann: Die Farm der Daten. Über den Auszug des Digitalen ins Grüne (S. 47–52)
https://www.wiko-berlin.de/wikothek/zeitschrift-fuer-ideengeschichte
Zeitungsartikel
Judith Lembke: Selbst ist das Dorf
Frankfurter Allgemeine Zeitung
https://www.faz.net
SZ-Beitrag: Das Dorf dorft
Süddeutsche Zeitung (Feuilleton)
Rezension zur ZIG-Ausgabe „Das Dorf“
Dokumentationen
SWR-Dokumentation: Leben auf dem Land
Zur Sache Rheinland-Pfalz / SWR Fernsehen
https://www.ardmediathek.de (SWR)
Das Dorf – Landleben früher
Dokumentation über das Leben auf dem Lande während der letzten hundert Jahre
Landflucht, Stadtsucht – Ein Blick nach Dedinghausen
Dokumentation mit westfälischem Bezug
Weiterführende Quellen
Gerhard Henkel – Offizielle Website
https://www.gerhardhenkel.de
Bundeszentrale für politische Bildung: Das Dorf
Sonderausgabe des Henkel-Buches
https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/313366/das-dorf/
Christoph Engemann – Publikationen
https://www.virtuelle-lebenswelten.de/early-career-forum/engemann-christoph
