Vom Luxusgut für den Adel zur industriellen Massenproduktion: Wie Westfalen zur Möbelschmiede Deutschlands wurde – und warum inzwischen neben erfolgreichen Küchenherstellern wie nobilia, Häcker und Nolte die Liste gescheiterter Traditionsbetriebe immer länger wird.
Es beginnt mit einem Hofmaler. 1792 eröffnet Philipp Ferdinand Ludwig Bartscher in Rietberg seine „Meublenfabricke“ – eine der ersten gewerbsmäßigen Möbelmanufakturen Westfalens. Seine Kunden sind Adelige, die einzigen, die sich solchen Luxus leisten können. Auch Johann Heinrich Rieseners kunstvolle Möbelstücke erfreuen zur gleichen Zeit den französischen Hochadel während des Ancien Régime. Möbel sind Handwerkskunst, Einzelstücke, Statussymbole einer kleinen Elite.
Doch mit der Industrialisierung ändert sich alles grundlegend. Plötzlich können sich breitere Bevölkerungsschichten Möbel leisten. Pioniere wie der Herforder Gustav Kopka und Hans-Dieter Wellmann revolutionieren die Branche durch Serienfertigung in Holz. Was folgt, ist eine beispiellose Konzentration: In und um Herford entsteht ein Schwerpunkt der Möbelindustrie, der bald ganz Deutschland prägen wird. Die Zahlen sprechen für sich – zwei Drittel aller deutschen Küchenmöbel und ein Viertel aller Möbelumsätze stammen aus Ostwestfalen-Lippe. Namen wie Nobilia, Häcker, Nolte, Poggenpohl und Sie Matic sind heute Inbegriff deutscher Küchenproduktion.
Doch die Geschichte kennt auch ihre Schattenseiten – und sie mehren sich dramatisch. Schieder-Möbel, einst Europas größter Möbelhersteller, ist nur noch Geschichte. Die Glunz AG aus Hamm, ehemals größter europäischer Spanplattenhersteller, verlor ihre Eigenständigkeit. Interlübke ging in die Insolvenz. Paschen existiert nicht mehr. Hornitext ist längst vom Markt verschwunden. 2024 musste auch Hülsta, der Premiumhersteller aus Stadlohn, den Betrieb endgültig einstellen. Warendorfer Küchen, ehemals Miele Küchen, gehört ebenfalls zu den Verlusten, ebenso Wellemöbel aus Paderborn, das in besten Zeiten über 8.000 Mitarbeiter beschäftigte. Selbst die großen Händler sind nicht mehr in Familienhand: Finke und Porta wurden verkauft. Zwischen Höhenflug und Absturz liegt in dieser Branche oft nur ein Konjunkturzyklus.
Trotz dieser Rückschläge gibt es auch Kontinuität. Die 3C-Gruppe und COR aus Rheda-Wiedenbrück sind für edle Polstermöbel bekannt. Hartmann aus Beelen gehört mit seinen Massivholzmöbeln zur deutschen Spitze. Und dann ist da noch der „Gelsenkirchener Barock“ – vielleicht kein kunsthistorischer, aber gewiss ein wirtschaftsgeschichtlicher Begriff.
Wo sich Industrie derart konzentriert, folgen Zulieferer und Dienstleister. Die Hettich-Gruppe aus Kirchlengern ist Weltmarktführer bei Zierbeschlägen. Große Möbelhändler wie die Porta-Gruppe aus Porta Westfalica und Zurbrüggen aus Unna haben hier ihre Heimat – auch wenn Porta nicht mehr eigenständig ist und Zurbrüggen zur Hälfte XXL-Lutz gehört.
Spezialisierte Logistiker wie Anton Röhr aus Rietberg und Hartmann aus Paderborn sichern die Lieferketten. Maschinenbauer wie IMA Klessmann aus Lübbecke, Kuper aus Rietberg oder der Formatkreissägenhersteller Altendorf aus Minden beliefern die Fabriken. Und Stoffproduzenten wie Delius und JAB Anstoetz aus Bielefeld liefern die Bezüge für Polstermöbel.
Selbst die Abfälle der Möbelfabriken werden von zahlreichen Unternehmen weiterverarbeitet – zu Pellets, Rindenmulch und Hackschnitzeln – ein Paradebeispiel für geschlossene Wertschöpfungsketten. Aktiv sind auch die Egger Sägewerke in Brilon sowie zahlreiche kleinere Sägewerke mit durchschnittlich 30 bis 50 Mitarbeitern, die das Fundament der Branche bilden. Das MARTa in Herford, ursprünglich als reines Möbelmuseum geplant, ist heute bundesweit für genreübergreifende Ausstellungen bekannt. An der Hochschule Ostwestfalen-Lippe in Lemgo kann man inzwischen Holztechnik studieren, und das Wald-Zentrum an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster widmet sich der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Der Bielefelder Historiker Joachim Radkau hat dem Material Holz gar ein ganzes Buch gewidmet.
Von Bartschers Hofmanufaktur bis zum modernen Möbel Valley – Westfalens Holzgeschichte ist eine Geschichte von Handwerkskunst, industriellem Ehrgeiz und wirtschaftlichem Erfolg. Doch die jüngere Vergangenheit erzählt vor allem von Scheitern und Strukturwandel. Schieder, Hülsta, Wellemöbel, Paschen, Warendorfer Küchen, Hornitext – die Liste der verschwundenen Namen liest sich wie ein Who’s Who der deutschen Möbelindustrie. Selbst Händlergrößen wie Finke und Porta mussten ihre Eigenständigkeit aufgeben.
Was bleibt, sind die großen Küchenhersteller in Ostwestfalen-Lippe, spezialisierte Zulieferer wie Hettich und eine Handvoll mittelständischer Betriebe. Die kleinen Sägewerke mit ihren 30 bis 50 Mitarbeitern bilden weiterhin das stabile Fundament. Doch der einstige Stolz des Möbel Valley hat tiefe Risse bekommen. Die Region mag noch immer zwei Drittel aller deutschen Küchenmöbel produzieren – doch sie tut es mit deutlich weniger Akteuren als noch vor zwei Jahrzehnten. Der Strukturwandel einer ganzen Branche zeigt sich nirgendwo so deutlich wie hier, wo Tradition auf die harte Realität globaler Märkte trifft.
Zugleich zeichnet sich eine bemerkenswerte Gegenbewegung ab. Während die industrielle Massenfertigung unter Druck gerät, besinnen sich viele Tischlereien auf ihre Wurzeln. Sie setzen auf das Manufaktur-Prinzip, fertigen hochwertige Möbel und Unikate nach individuellen Kundenwünschen. Was einst der Adel bei Bartscher bestellte, findet im 21. Jahrhundert neue Abnehmer: Menschen, die Qualität, Langlebigkeit und Handwerkskunst schätzen. So schließt sich der Kreis – von der Einzelfertigung über die industrielle Massenproduktion zurück zur maßgeschneiderten Manufaktur. Vielleicht liegt gerade in dieser Rückbesinnung die Zukunft einer Branche, die lernen musste, dass nicht jedes Wachstum von Dauer ist.