Von Ralf Keuper

Am vergangenen Montag (17.02) hielt der bekannte Kulturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht auf Einladung der Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte in der IHK zu Dortmund einen Vortrag mit dem Titel „Nationale Stilarten im Fussball – Reflexionen zur Ästhetik des Sports am Beispiel Südamerikas“.

Sehr zur Freude des Auditoriums stellte sich Gumbrecht als Anhänger des BVB vor, der das Geschehen vom fernen Kalifornien aus aufmerksam verfolgt, oder anders ausgedrückt: Der auch an der Westküste der USA stets auf Ballhöhe ist 😉

These seines Vortrags war, dass Fussball aus Sicht der Zuschauer eine ästhetische Erfahrung ist, und nicht, wie Adorno und die Vertreter der Kritischen Theorie meinten, ein Mittel, um sich über den tristen Alltag hinwegzutrösten und in eine Scheinwelt zu flüchten. Fussball hat demnach auch eine intellektuelle Komponente. Seine Gedanken zur Ästhetik des Fussballs erläuterte Gumbrecht u.a. unter Rückgriff auf Immanuel Kant und Niklas Luhmann. Eng mit der Ästhetik verbunden sind Fragen des Stils und hier insbesondere, welche spezielle Merkmale einen Stil kennzeichnen. Kaum anderswo als in Südamerika lassen sich die verschiedenen nationalen Stile im Fussball besonders gut veranschaulichen.

Lange bevor Brasilien die Fussballwelt dominierte, versetzte die Nationalmannschaft Uruguays die Zuschauer und die Fachwelt in Entzücken. Einer der ersten Stars des Fußballs war Isabelino Gradín, der in Uruguay noch heute als Nationalheld verehrt wird. Das Gedicht Dynamische Verse auf Gradín, den Fussballspieler von Juan Parra del Riego muss jedes Schulkind in Uruguay lernen.

Während der Fussball in Uruguay offensiv ausgerichtet war, bevorzugten die Nachbarn in Argentinien die defensive Variante. Wenngleich nationale Ereignisse und der Fussball häufig miteinander korrespondieren, ist es mitunter reine Spekulation, eine kausale Beziehung herzustellen. Gleiches gilt für den Einfluss kultureller Strömungen. Am ehesten träfe die Kultur-These noch auf Brasilien zu.

Der brasilianische Soziologe Gilberto Freyre jedenfalls war 1938 davon überzeugt, dass der brasilianische Fußball-Stil Ausdruck der Kultur, Ethnologie des Landes war:

Unser Stil, Fussball zu spielen, unterscheidet sich, glaube ich, vom europäischen Stil durch mehrere typische Eigenschaften der Mulatten wie wir sie jetzt auch in der Politik sehen: durch die Fähigkeit zur Überraschung, die Eleganz, den Spielwitz, die Leichtigkeit und zugleich ihre individuelle Spontanität. (Quelle: Handout)

Ganz anders als in Uruguay, Argentinien und Brasilien verlief die Entwicklung in Chile. An sich kein kleines und auch kein armes Land, hatte sich in Chile eine gewisse „Underdog-Mentalität“ verfestigt, die auch auf den Fussball ausstrahlte. Auch blieb hier die Professionalisierung im Sport weitgehend aus. Tonangebend waren und sind verschiedene Universitätsmannschaften. Überhaupt hat der Gedanke der Gleichheit auch im Fussball Vorrang, weshalb sich in Chile bis heute auch keine Stars entwickeln konnten.

Stars und Protagonisten sind aber für den Stil eines Landes unabdingbar. Ohne herausragende Identifikationsfiguren verbleibt der Fussball auf einem relativ niedrigen Niveau.

Vom Fussball nicht zu trennen sind soziale, schichtspezifische Faktoren. Viele Vereine Südamerikas repräsentierten das Gesellschaftsgefüge des Landes. So gab es Clubs der Oberschicht wie auch der „Normalen“ Leute.

Der Aufstieg der Fussballnation Brasilien begann erst mit dem Einsatz afro-brasilianischer Spieler.

Als einer, wenn nicht – der, Höhepunkt des brasilianischen Fussballs gilt das Spiel gegen Italien während der WM von 1970. Der Spielzug, der zum 4:1 Endstand für Brasilien führte, gilt als einer der schönsten der Fussballgeschichte – zu Recht, worüber man sich selbst auf Youtube ab Minute 6 überzeugen kann: Sichere Ballführung und Ballannahme, Exzellente Übersicht und perfekter Abschluss.

Spätestens seit 2002 ist die brasilianische Mannschaft auf der Suche nach einem neuen Stil.

In Deutschland verfolgt die Nationalmannschaft seit einigen Jahren einen ungewohnt offensiven Ansatz. In Italien ist man dagegen der defensiven Spielweise treu geblieben.

Als in Teilen bis heute noch prägende Stile im professionellen Fussball bezeichnet Gumbrecht das von Helenio Herrera bei Inter Mailand eingeführte Spielsystem des „Riegels“ (Catenaccio), dessen Ursprünge in der Schweiz liegen, und den auf Rinus Michels zurückgehenden betont offensiven Total Football-Ansatz.

Als seit Jahrzehnte typisch offensiv ausgerichtete Mannschaft bezeichnete Gumbrecht den BVB.

Mit Blick auf die Zukunft stellt sich die Frage, ob wir eine Globalisierung, d.h. Angleichung der Fußball-Stile erleben werden, oder es künftig verschieden Stile geben wird, die auf ihre Weise zum Erfolg führen.

Überhaupt wird dem Erfolg ein zu großer Wert beigemessen. Aus Sicht der Ästhetik sind schöne Spielzüge wichtiger als Tore, was sich natürlich nicht ausschließen muss, wie nicht nur das Beispiel Brasiliens während der WM 1970 zeigt, sondern auch das Halbfinal-Spiel Deutschland gegen Italien, ebenfalls während der WM 1970, das trotz der Niederlage Deutschlands, als „Jahrhundertspiel“ gilt.

Ebenfalls von Interesse ist die Frage, welchen Einfluss die Trainer auf die Stilentwicklung im Fussball (noch) haben werden.

Weitere Informationen:

Philosophie des leeren Stadions

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