Ossip K. Flechtheim, der am 5. März 1909 in Nikolajew bei Odessa das Licht der Welt erblickte, entstammte der traditionsreichen westfälischen Unternehmerfamilie Flechtheim aus Brakel. Sein Vater Hermann Flechtheim (1880–1960), ein Buchhändler, war als Geschäftsführer des Getreidegroßhandelsunternehmens M. Flechtheim & Comp. in Russland tätig, wo er Olga Farber (1884–1964) heiratete. Aus der Familie ging auch der bekannte in Münster geborene Kunsthändler Alfred Flechtheim hervor – Ossips Onkel, dessen Name in den Kulturkreisen der Zeit durchaus Bedeutung besaß und die intellektuelle Tradition der Familie widerspiegelte.

1910 führte der familiäre Weg zurück in die westfälische Heimat: Die Familie zog nach Münster, der Geburtsstadt des Vaters, bevor sie sich 1920 in Düsseldorf niederließ. Obwohl beide Eltern der jüdischen Gemeinde angehörten, entwickelte Ossip selbst kein religiöses Interesse und wurde später als konfessionsloser Humanist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbands.

Studium und frühe politische Prägung

Nach seinem Abitur 1927 an der Hindenburgschule (heute Humboldt-Gymnasium Düsseldorf) zog es den jungen Flechtheim zur KPD, die er bereits mit 18 Jahren beigetreten war. Doch die ideologische Enge der Partei ließ ihn nach einer Moskau-Reise 1931 wieder austreten – fünf Jahre nach seinem Beitritt. Parallel studierte er Rechts- und Staatswissenschaften an renommierten Universitäten: Freiburg im Breisgau, Paris, Heidelberg, Berlin und schließlich Köln. Zu seinen akademischen Lehrern gehörten Größen wie Edmund Husserl, Alfred Weber, Karl Mannheim und Gustav Radbruch.

Von 1931 bis 1933 absolvierte Flechtheim sein juristisches Referendariat beim Oberlandesgericht Düsseldorf und konnte 1934 noch bei Carl Schmitt in Köln mit der Arbeit „Hegels Strafrechtstheorie“ zum Dr. jur. promovieren. Die notwendige Buchausgabe erschien jedoch bereits im Ausland – ein erstes Zeichen der sich verschärfenden politischen Lage.

Verfolgung und Exil

Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, traf es Flechtheim doppelt hart: Sowohl sein Engagement in der linksozialistischen Widerstandsgruppe „Neu Beginnen“ unter Walter Löwenheim als auch seine jüdischen westfälischen Wurzeln machten ihn zum Verfolgten. Er wurde aus dem öffentlichen Dienst entlassen und 1935 für 22 Tage inhaftiert. Nur knapp konnte er den Nationalsozialisten entkommen und floh über Belgien in die Schweiz.

In der Schweiz konnte Flechtheim dank eines Stipendiums seine wissenschaftlichen Studien am Institut Universitaire des Hautes Etudes Internationales der Universität Genf fortsetzen und schloss diese 1939 mit dem Diplom ab. Ein bitterer Schlag war die Ausbürgerung: Die Universität Köln entzog ihm am 14. April 1938 auch den Doktorgrad.

1939 emigrierte er in die Vereinigten Staaten, wo er zunächst als Assistent an Max Horkheimers Institute of Social Research der Columbia University in New York arbeitete. Dort lernte er bedeutende Zeitgenossen wie Erich Fromm, Herbert Marcuse und Isaac Asimov kennen. Später lehrte er an verschiedenen amerikanischen Hochschulen, zunächst bis 1943 an der Universität von Atlanta, dann am Colby College und als Assistant Professor am Bates College in Maine.

Im Dezember 1942 heiratete er Lili Therese Faktor, die Tochter des ehemaligen Chefredakteurs des Berliner Börsencouriers. Ihre Tochter Marion Ruth wurde am 26. September 1946 geboren. Während des Zweiten Weltkriegs trat Flechtheim in die US-amerikanische Armee ein und kehrte 1946 als Lieutenant Colonel für einige Monate als Sektions- und Bürochef beim Amt des US-Hauptanklägers für Kriegsverbrechen nach Deutschland zurück.

Rückkehr und Neuanfang

Die wissenschaftliche Rehabilitation erfolgte 1947: Mit seinem Werk „Die KPD in der Weimarer Republik“ (1948) promovierte er an der Universität Heidelberg zum Dr. phil., während die Kölner Fakultät am 10. April 1947 seinen juristischen Doktorgrad wieder bewilligte. Nach weiteren Jahren als Hochschullehrer in den USA kehrte er 1952 endgültig nach Deutschland zurück.

Seine deutsche Universitätslaufbahn begann 1952 mit einer ordentlichen Professur an der wiedergegründeten Deutschen Hochschule für Politik in West-Berlin. 1959 wurde er durch die Integration der Einrichtung in die Freie Universität Berlin Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut, wo er bis zu seiner Emeritierung 1974 Geschichte und Theorie der Parteien lehrte. Während der Studentenbewegung etablierte er sich als einer der profiliertesten Hochschullehrer, stets auf Seiten der „Linken“, ohne sich jedoch dauerhaft parteipolitisch zu binden.

Pionier der Futurologie

Flechtheims wohl bedeutendster wissenschaftlicher Beitrag war die Prägung des Begriffs „Futurologie“ bereits 1943 in den USA. 1968 erschien in der Neuen Rundschau sein einflussreicher Aufsatz „Futurologie – Möglichkeiten und Grenzen“, 1970 folgte das wegweisende Werk „Futurologie: Der Kampf um die Zukunft“. Darin kritisierte er sowohl die westliche Zukunftsforschung als auch die realsozialistischen Prognostik als technokratisch und setzte dagegen ein Modell der „Befreiung der Zukunft“. Seine Vision war die „Entfaltung, Internationalisierung und Demokratisierung der Futurologie“ als Voraussetzung für eine Demokratisierung der Gesellschaft.

Politisches und humanistisches Engagement

Flechtheim war ein „heimatloser Linker“, der sich keiner Partei dauerhaft verschrieb. 1962 verließ er die SPD, der er zehn Jahre angehört hatte, und wurde 1981 Mitglied der Grünen. Mit Hans Magnus Enzensberger und anderen gründete er 1967 den „Republikanischen Club“ in Berlin, der zu einem wichtigen Forum der außerparlamentarischen Linken wurde.

Sein humanistisches Engagement war vielfältig: Er gehörte dem Kuratorium der 1957 gegründeten Deutsch-Israelischen Studiengruppe an, war Gründungsmitglied und Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Mitglied des PEN-Clubs und unterstützte als Pazifist die Internationale der Kriegsdienstgegner. Seine Haltung brachte er 1985 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf den Punkt: Am meisten verabscheue er „die Unmenschlichkeit“ und den Krieg der Menschen gegeneinander.

Wissenschaftliches Werk und Wirkung

Flechtheims wissenschaftliches Œuvre war beeindruckend vielfältig und umfasste neben seiner Dissertation „Hegels Strafrechtstheorie“ (1936) bedeutende Arbeiten wie „Die KPD in der Weimarer Republik“ (1948), „Fundamentals of Political Science“ (1952), „Von Hegel zu Kelsen“ (1963), „Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland“ (1973) und die autobiographische Reflexion „Ausschau halten nach einer besseren Welt“ (1991). Er publizierte regelmäßig in renommierten Zeitungen wie der Frankfurter Rundschau und Die Zeit.

Sein umfangreicher Nachlass, den seine Tochter Marion Ruth Thimm dem Exilarchiv übergab, dokumentiert ein bemerkenswertes Netzwerk: Korrespondenzen mit Willy Brandt, Ruth Fischer, Erich Fromm, Theodor Heuss, Gustav Heinemann, Richard Löwenthal, Golo Mann, Hans Mayer, Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker zeugen von seinem Einfluss. Besonders wertvoll sind zehn Briefe von Thomas Mann aus den Jahren 1939 bis 1945.

Ehrungen und Vermächtnis

Flechtheim war ein Mensch mit Prinzipien: 1979 lehnte er das Große Bundesverdienstkreuz mit der Begründung ab, dieses hätten zu viele Nazis erhalten. Stattdessen wurde er 1986 von der Humanistischen Union mit dem Fritz-Bauer-Preis ausgezeichnet. 1989 erhielt er von der Freien Universität Berlin die Ehrendoktorwürde und vom Berliner Senat die Ernst-Reuter-Plakette.

Am 4. März 1998 verstarb Flechtheim am Vorabend seines 89. Geburtstags in seiner Wahlheimat Berlin. Sein Grab befindet sich auf dem Berliner Friedhof Dahlem. 2003 würdigte der Humanistische Verband Deutschlands, dem er lange angehört hatte, sein Lebenswerk mit der Stiftung des Ossip K. Flechtheim-Preises, der alle zwei Jahre für herausragendes Engagement zur „Förderung von Aufklärung, Toleranz und Selbstbestimmung“ verliehen wird.

So verband sich in Flechtheim das westfälische Erbe der Brakeler Unternehmerfamilie mit dem Schicksal des deutschen Exils und der intellektuellen Erneuerung der Nachkriegszeit – ein Leben, das exemplarisch für die verschlungenen Wege deutscher Geistesgeschichte im 20. Jahrhundert steht und dessen humanistische Botschaft bis heute nachwirkt.

Quellen:

Wikipedia 

BEGRÜNDER DER FUTUROLOGIE – OSSIP K. FLECHTHEIM ZUM 100. GEBURTSTAG

Von Rolevinck

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