Westfalen hat sich zu einem der bedeutendsten Logistikstandorte Europas entwickelt. Zwischen Autobahnen und Algorithmen, zwischen Gabelstaplern und Glasfaserkabeln entsteht hier eine Branche im radikalen Wandel – angetrieben von Weltmarktführern, die längst verstanden haben: Logistik ist mehr als der Transport von A nach B.


Die Geografie des Erfolgs

Deutschland ist Transit. Wer auf der Landkarte die Routen nachzeichnet, die Europa verbinden, der landet unweigerlich in der Mitte – und damit in Westfalen. Die Region ist kein Zufall der Geografie, sondern deren logische Konsequenz. Hier kreuzen sich seit Jahrhunderten Handelswege, hier bündeln sich Warenströme, hier pulsiert eine Branche, die längst über das klassische Bild von Lkw-Kolonnen auf der A2 hinausgewachsen ist.

Die Logistik, einst definiert durch Frachträume und Lieferzeiten, hat ihr Gesicht gewandelt. Sie ist digitaler geworden, immaterieller, komplexer. Neben den traditionellen Säulen – Lkw, Bahn, Schiff und Flugzeug – haben sich neue Disziplinen etabliert: Kontraktlogistik, die langfristige Partnerschaften statt punktueller Transporte organisiert. Intralogistik, die Warenbewegungen innerhalb von Lagern und Produktionshallen optimiert. Und Informationslogistik, die Datenströme mit derselben Präzision steuert wie einst Güterströme. Die Branche hat erkannt: In einer vernetzten Welt ist Information selbst zur Ware geworden.

Die Pioniere: Von Nagel bis Rhenus  

Westfalen spielt in dieser Evolution eine Vorreiterrolle. Die Fiege-Gruppe aus Greven gilt als Pionier der Kontraktlogistik – jener Form der Zusammenarbeit, bei der Logistikdienstleister zu strategischen Partnern ihrer Kunden werden und komplette Wertschöpfungsketten übernehmen. Ein Paradigmenwechsel, der die Branche nachhaltig verändert hat.

Spezialisierung als Erfolgsrezept verfolgt die Nagel-Gruppe aus Versmold. Temperaturgeführte Logistik – Kühltransporte für empfindliche Waren – ist ihre Kernkompetenz. Doch auch Nagel beschränkt sich längst nicht mehr auf die klassische Stückgutdistribution von täglich über 95.000 Sendungen. Handels- und Beschaffungslogistik, Ladungsverkehre, Kontraktlogistik und Tiefkühllogistik ergänzen das Portfolio. Der Kunde soll alles aus einer Hand erhalten – ein Komplettangebot, das die Grenzen zwischen einzelnen Logistikdisziplinen verwischt.

Die Geschichte der Nagel-Gruppe ist zugleich ein Spiegel der westfälischen Speditionsgeschichte. Versmold, heute vor allem für seine Fleischindustrie bekannt – manchmal gar als „Fettfleck Westfalens“ tituliert –, war einst Keimzelle des regionalen Transportwesens. Bereits im 18. Jahrhundert betrieb die Familie Delius von hier aus über Kontore in Hamburg, Bremen, Amsterdam und Russland einen florierenden Textilhandel.

Als Werbegeschenk legten die Händler ihren Leinenwaren Speck, Schinken und Rohwurst bei – so wurden westfälische Wurstwaren europaweit zur Marke. Mit der Motorisierung emanzipierte sich das Speditionswesen von der Fleischware. 1924 gründete Heinrich Lohmann die erste moderne Spedition und richtete regelmäßige Verbindungen nach Dortmund und später Berlin ein. Aus dieser „Lohmann-Schule“ gingen weitere Pioniere hervor, darunter Paul Wrobbel. Die Gebrüder Kurt und Rudolf Nagel gründeten später ihr eigenes Transportunternehmen und trennten sich schließlich. Kurt „Jumbo“ Nagel erwies sich als der geschäftlich Erfolgreichere. Unter seinem Sohn Kurt Nagel Junior wuchs das Unternehmen zu einem der führenden europäischen Transportunternehmen mit heute über 11.000 Mitarbeitern und mehr als 2 Milliarden Euro Umsatz heran – im Bereich der temperaturgeführten Lebensmittellogistik ist Nagel Marktführer. Die Verbindung zu den Wurzeln in Fleisch und Wurst besteht also noch immer, wenn auch auf ganz anderer Ebene.

Die westfälischen Wurzeln des Transportwesens reichen noch tiefer. Die Familie Sieveking, deren Name später in Hamburg zu Ansehen gelangte, stammte ursprünglich aus Versmold: Asswer Hinrich Sieveking war dort Bürgermeister, sein Sohn Peter Nicolaus gründete 1734 ein Tuchgeschäft in Hamburg. Dessen Sohn Georg Heinrich Sieveking führte das Handelshaus „Voght und Sieveking“ zu außerordentlichem Erfolg und unterhielt Handelsverbindungen nicht nur nach Frankreich, sondern auch nach Nordamerika, West- und Ostindien sowie Afrika. Ähnlich verlief die Karriere von Christoph Diedrich Arnold Delius aus Vlotho, der nach seiner kaufmännischen Lehre in Bremen ein Ein- und Ausfuhrgeschäft für westfälisches Leinen gründete, das nach Nordamerika und Westeuropa exportierte. Seine Reederei mit Niederlassungen in Baltimore, New York und Philadelphia wurde von Verwandten geleitet; er selbst besaß ausgedehnte Ländereien in South Carolina. 1794 ernannte ihn George Washington zum ersten amerikanischen Konsul für Bremen – eine Ernennung, die der Bremer Senat allerdings ablehnte, angeblich weil Delius das Ernennungsdokument durch seine Dienstmagd „welche nicht einmal ihr Sonntagskleid angehabt hat“ übersenden ließ. Westfälische Familien spannten bereits im 18. Jahrhundert globale Handelsnetze, lange bevor es den Begriff Globalisierung gab – und manchmal scheiterten ihre diplomatischen Ambitionen an Fragen der Etikette.

Besonders dynamisch entwickelt sich die Duvenbeck-Gruppe aus Bocholt. Mit dem Firmen-Slogan „The Culture Of Logistics“ setzt das Unternehmen bewusst auf Abgrenzung durch Unternehmenskultur. Logistik wird hier nicht als rein operative Dienstleistung verstanden, sondern als strategisches Beratungsfeld. Das Engagement im IT-Geschäft unterstreicht diesen Anspruch.

Und nicht zu vergessen, Rhenus aus Holzwickede bei Dortmund. Das Unternehmen, das zur Rethmann-Gruppe aus Selm gehört, ist inzwischen das größte private Logistikunternehmen Deutschlands.

Global Player mit regionalen Wurzeln

Die Dimensionen werden noch größer, wenn man auf die Bertelsmann-Tochter arvato blickt – mit Abstand der größte Logistikdienstleister Westfalens. Hier verschmelzen Medienlogistik und IT-Services zu einem globalen Netzwerk, das die Transformation der Branche exemplarisch verkörpert. Ähnlich breit aufgestellt ist Rhenus, die Rethmann-Tochter in Holzwickede bei Dortmund, ein weiterer Global Player mit Wurzeln in der Region.

Spezialisierte Anbieter finden ihre Nische: Georgi Transporte aus Burbach im Kreis Siegen-Wittgenstein hat sich als einer der größten europäischen Transporteure im Luftfrachtersatzverkehr positioniert – eine Marktnische, die zeigt, wie ausdifferenziert die Logistiklandschaft inzwischen ist.

Die geografische Begünstigung manifestiert sich besonders in Dortmund und Hamm, den beiden führenden Logistikstandorten Westfalens. Dortmund hat seiner logistischen Bedeutung sogar eine eigene Homepage gewidmet – ein ungewöhnlicher Schritt, der die Identifikation der Stadt mit der Branche unterstreicht. In Werne im Kreis Unna errichtete Amazon ein großes Logistikzentrum, das spätestens seit den Vorkommnissen Ende 2011 und den nachfolgenden Arbeitsbedingungsdebatten auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde – ein Beispiel dafür, dass die Logistik nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftspolitische Fragen aufwirft.

Die Kehrseite des Fortschritts: Automatisierung und ihre Folgen

Doch die gesellschaftlichen Herausforderungen reichen weit über Arbeitsbedingungen hinaus. Amazon steht symptomatisch für einen fundamentalen Umbruch, der die gesamte Logistikbranche erfasst: die Automatisierung durch Künstliche Intelligenz und Robotik. Bis 2033 sollen beim Konzern weltweit rund 600.000 Stellen wegfallen – eine Zahl, die die Dimensionen der Transformation verdeutlicht. Was in den hochautomatisierten Lagerhallen beginnt, wo Roboter längst Pakete sortieren und fahrerlose Transportsysteme durch die Gänge navigieren, setzt sich fort bis zur letzten Meile: Lieferdrohnen und autonome Lieferfahrzeuge sind keine Science-Fiction mehr, sondern befinden sich in der Erprobungsphase.

Die Westfälische Logistiklandschaft steht vor einem Dilemma. Einerseits sind Automatisierung und KI unerlässlich, um im globalen Wettbewerb zu bestehen. Die Intralogistik-Weltmarktführer wie SSI Schäfer und Beumer treiben diese Entwicklung selbst voran – ihre intelligenten Systeme ersetzen menschliche Arbeit durch Präzision und Effizienz. Andererseits ist die Logistik einer der größten Arbeitgeber der Region. Jeder wegfallende Arbeitsplatz im Lager, jeder durch autonome Systeme ersetzte Lkw-Fahrer, jede durch Algorithmen optimierte Route bedeutet nicht nur einen Rationalisierungsgewinn, sondern auch einen Menschen, der sich neu orientieren muss.

Die Branche reagiert unterschiedlich auf diese Herausforderung. Während Konzerne wie Amazon die Automatisierung konsequent vorantreiben und soziale Verwerfungen billigend in Kauf nehmen, setzen einige westfälische Familienunternehmen auf einen graduelleren Übergang. Der Kulturansatz von Duvenbeck etwa betont bewusst den menschlichen Faktor – eine Strategie, die auch wirtschaftlich begründet ist: Komplexe Kundenbeziehungen, flexible Problemlösungen und Qualitätskontrolle erfordern nach wie vor menschliche Kompetenz. Doch auch hier ist klar: Die Frage lautet nicht ob, sondern wie und wie schnell die Transformation erfolgt.

Die Forschungseinrichtungen in Dortmund und Paderborn arbeiten intensiv an Antworten. Es geht nicht nur um technische Innovationen, sondern zunehmend auch um soziale Innovationen: Wie können Beschäftigte umgeschult werden? Welche neuen Qualifikationsprofile entstehen? Wie lässt sich der Übergang sozialverträglich gestalten? Die Logistik der Zukunft wird nicht ohne Menschen auskommen – aber sie wird andere Menschen brauchen: Datenanalysten statt Gabelstaplerfahrer, KI-Trainer statt Lagerarbeiter, Prozessoptimierer statt Packer.

Westfalen und die Weltmeere: Maritime Traditionen im Binnenland

Überraschende Verbindungen offenbaren sich bei einem Blick auf die maritime Logistik: Die zweitgrößte Reederei Deutschlands, Hamburg Süd, gehörte jahrzehntelang zur Oetker-Gruppe in Bielefeld, bevor sie vor einigen Jahren an die dänische Maersk-Linie verkauft wurde – ein Verkauf, der das Ende einer Ära markierte und zugleich die Konsolidierungsdynamik in der globalen Schifffahrtsbranche widerspiegelte. Eine historische Fußnote von Gewicht: Auch die seinerzeit größte Privat-Reederei der Welt gehörte einem gebürtigen Bielefelder – Carl Woermann. Die maritimen Traditionen der Stadt im tiefsten Binnenland sind bemerkenswert: Bielefelder Kaufleute trugen den Namen ihrer Stadt über Jahrhunderte an die Küsten und weit darüber hinaus – eine „Hansestadt im Seewind“, wie es ein Buchtitel treffend formuliert. Die Hafenstädte mögen anderswo liegen, doch die westfälischen Verbindungen zur maritimen Logistik reichen tief in die Geschichte zurück und speisten sich aus dem kaufmännischen Geschick der Leinenhändler, die globale Handelsnetze knüpften. Diese Verbindung zwischen Binnenland und Seehandel fand auch wissenschaftliche Würdigung: Hermann Wätjen, Spross einer Bremer Reedersfamilie, lehrte zwei Jahrzehnte an der Universität Münster und erschloss mit seinen Arbeiten zur weltweiten Seehandelsgeschichte Neuland wirtschaftsgeschichtlicher Archivforschung – ein Historiker, der den Lebensstil des hanseatischen Großbürgers pflegte und zugleich die Handelsgeschichte seiner westfälischen Wahlheimat erforschte.

Auch bei Kühne + Nagel, einem der weltweit führenden Logistikkonzerne, findet sich eine westfälische Spur – allerdings eine, die zugleich zu den dunkelsten Kapiteln deutscher Geschichte führt. Adolf Maass, 1875 in Borgholzhausen im Kreis Gütersloh geboren, stieg nach seiner Lehre rasant auf, gründete 1902 die Hamburger Niederlassung und wurde 1910 Teilhaber des Unternehmens. 1928 wurden ihm 45 Prozent der Anteile am Hamburger Zweig zugesprochen. Doch 1933, nach einer geschäftlichen Auseinandersetzung mit den Firmenerben und vermutlich auch aus politischen Gründen, verließ der Jude Maass die Firma ohne Abfindung – einer der Mitinhaber trat im Mai 1933 der NSDAP bei. Was folgte, war die systematische Vernichtung einer Existenz: 1938 Verhaftung und KZ Sachsenhausen, 1941 Zwangsverkauf des Hauses, 1942 Deportation nach Theresienstadt, 1944 vermutlich Ermordung in Auschwitz. Die Geschichte von Adolf Maass erinnert daran, dass Wirtschaftsgeschichte nie losgelöst von ihrer Zeit betrachtet werden kann – und dass hinter Firmenerfolgen manchmal auch Schuld und Verdrängung stehen.

Einen besonderen Wachstumsschub erlebt die Intralogistik – jene unsichtbare Disziplin, die sich mit dem Warenfluss innerhalb von Gebäuden beschäftigt. Automatisierte Regalsysteme, fahrerlose Transportsysteme, intelligente Sortiertechnik: Hier verbinden sich Mechanik und Softwaresteuerung zu hochkomplexen Lösungen. SSI Schäfer aus Neunkirchen im Kreis Siegen-Wittgenstein und die Beumer-Gruppe aus Beckum im Kreis Warendorf zählen weltweit zur Spitze dieser Branche – Weltmarktführer aus Westfalen, deren Namen außerhalb der Fachwelt kaum bekannt sind, deren Technik aber in unzähligen Lagerhallen rund um den Globus arbeitet.

Wissen und Forschung: Die intellektuelle Infrastruktur

Die wissenschaftliche Fundierung dieser Entwicklung erfolgt vor Ort. Logistik kann man unter anderem an der TU Dortmund und der Universität Paderborn studieren. Wer tiefer in die Forschung einsteigen möchte, findet am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik in Dortmund oder am Fraunhofer-Anwendungszentrum für Logistikorientierte Betriebswirtschaft in Paderborn exzellente Rahmenbedingungen. Theorie und Praxis, Forschung und Anwendung liegen hier eng beieinander – eine Konstellation, die Innovationen beschleunigt.

Ausblick: Zwischen Innovation und Verantwortung

Westfalen ist mehr als ein Logistikstandort. Es ist ein Ökosystem, in dem Traditionsunternehmen und Hidden Champions, Forschungseinrichtungen und Start-ups, materielle Güterströme und immaterielle Datenflüsse zusammenwirken. Die Region profitiert von ihrer zentralen Lage, aber sie ruht sich nicht darauf aus. Sie gestaltet aktiv die Zukunft einer Branche, die für die deutsche Wirtschaft systemrelevant ist.

Doch diese Zukunft wird keine einfache Fortsetzung der Vergangenheit sein. Die Automatisierungswelle stellt die Region vor ihre vielleicht größte Bewährungsprobe seit dem Strukturwandel des Ruhrgebiets. Damals verschwand die Kohle und mit ihr Hunderttausende Arbeitsplätze. Heute könnte die Logistik – jene Branche, die als Hoffnungsträger des postindustriellen Zeitalters galt – selbst zum Schauplatz massiver Umbrüche werden. Die Ironie der Geschichte: Ausgerechnet jene Unternehmen, die Westfalen zu einem Logistik-Powerhouse gemacht haben, entwickeln und implementieren die Technologien, die traditionelle Logistikjobs obsolet machen.

Die Frage ist nicht, ob die Transformation kommt – sie ist längst da. Die Frage ist, ob es gelingt, sie sozial abzufedern und in Innovation statt Resignation zu verwandeln. Westfalen hat bewiesen, dass es Strukturwandel bewältigen kann. Jetzt muss die Region zeigen, dass sie auch den digitalen Wandel gestalten kann – nicht als passives Opfer technologischer Zwänge, sondern als aktiver Architekt einer Logistik, die Effizienz und menschliche Würde miteinander versöhnt. Die Logistik ist längst nicht mehr nur das Rückgrat der Wirtschaft – sie ist deren Nervensystem geworden. Und wie jedes Nervensystem muss auch sie lernen, sich anzupassen, ohne dabei ihre Substanz zu verlieren.

Von Rolevinck

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