Es gibt Momente in der Geschichte, in denen das Undenkbare Wirklichkeit wird. Als August Claas 1936 den ersten fahrbaren Mähdrescher präsentierte, war dies ein solcher Moment. Was zuvor als utopisch galt – die Industrialisierung der Landwirtschaft –, nahm plötzlich konkrete Formen an. Felder, die Generationen von Bauern mit Sense und Sichel bearbeitet hatten, konnten nun von Maschinen in Bruchteilen der Zeit abgeerntet werden. Die Produktionsmengen explodierten, der Hunger in Europa wurde beherrschbar. Dass ausgerechnet aus Westfalen, dieser Region zwischen Industrierevier und Agrarland, die entscheidenden Impulse kamen, war kein Zufall.
Die Geschichte der westfälischen Landmaschinenindustrie beginnt nicht in Fabriken, sondern in Schmieden. Kleine Betriebe, in denen Handwerker Pflugscharen schärften, Eggen reparierten und nach und nach begannen, eigene Konstruktionen zu entwickeln. Aus diesen bescheidenen Anfängen wuchsen Unternehmen wie Claas, das heute Europas größter Landmaschinenhersteller ist. Noch in den 1970er Jahren spotteten manche, Claas sei „im Grunde genommen nur eine große Schmiede“ – eine Bemerkung, die mehr über die Herkunft dieser Industrie verrät als über ihre tatsächliche Innovationskraft.
Neben den bekannten Großakteuren gab es eine Vielzahl kleiner bis mittelgroßer Erfinder und Werkstätten, die teils unscheinbar wirkende, aber wichtige technische Lösungen beisteuerten. Julius Tielbürger etwa – geboren 1919 in Oppenwehe – entwickelte nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals einen Kartoffel- und Rübenvollernter, der auf westfälischen Feldern mechanisierte Erntearbeiten nach und nach ersetzte.
Und auch auf dem Gebiet der Separationstechnik, die für Milch-, Öl- und Genussmittelproduktion von Bedeutung war, entstand in Westfalen Großes: Die Firma Westfalia Separator (später GEA Westfalia Separator) mit Sitz in Oelde begann 1893 mit Milchseparatoren und entwickelte sich zu einem Maschinenbauunternehmen mit internationaler Ausrichtung. Diese Beispiele zeigen: Westfälische Innovation war nicht nur auf Traktoren und Mähdrescher beschränkt, sondern spannte sich über das gesamte Netzwerk agrartechnischer Maschinen – von Pflug und Mähdrescher bis zu Ernte-, Sortier- und Separator-Technologien.
Denn was in Westfalen geschah, war nichts Geringeres als eine technologische Revolution. Friedrich Ottomeyer, ein heute zu Unrecht fast vergessener Name, entwickelte Tiefpflüge vom Typ Mammut – die größten Pflüge der Welt, angetrieben von verstärkten Pfluglokomotiven, den leistungsfähigsten selbstfahrenden Lokomobilen aller Zeiten. Diese Giganten pflügten Moore um und machten Land urbar, das zuvor als unbewirtschaftbar galt. Hugo Güldner leistete Pionierarbeit im Dieselmotorenbau und konstruierte die Güldner-Ackerschlepper. Anton Schlüter aus Brilon gründete in München die Schlüter-Traktoren – ein Unternehmen mit westfälischen Wurzeln, das über Jahrzehnte Maßstäbe setzte.
Doch der Mähdrescher selbst war keine europäische Erfindung. In den Vereinigten Staaten und in Australien hatte sich die Technik schon Jahrzehnte zuvor durchgesetzt – dort, wo riesige Flächen, Arbeitskräftemangel und Kapitalverfügbarkeit den Einsatz großer Maschinen begünstigten. Europa dagegen war kleinteilig, agrarisch dicht besiedelt, geprägt von Handarbeit. Der Mähdrescher galt hier lange als unpraktisch, fast anmaßend – ein Symbol amerikanischer Gigantomanie, nicht europäischer Vernunft.
August Claas erkannte früh, dass diese Sichtweise ein Irrtum war. Er versuchte, andere deutsche Hersteller – darunter Lanz – für ein gemeinsames Projekt zur Entwicklung eines europäischen Mähdreschers zu gewinnen. Doch sie winkten ab. Als die Vertreter von Lanz den Claas-Prototypen begutachteten, sollen sie gelächelt und den Kopf geschüttelt haben. Claas notierte später sinngemäß: „Wenn niemand mitmacht, dann machen wir’s eben allein.“ Diese Mischung aus Trotz und Zielstrebigkeit ist typisch westfälisch – und sie war der Ausgangspunkt einer europäischen Erfolgsgeschichte.
Die entscheidende Figur für den Durchbruch des Mähdreschers in Europa war jedoch nicht Claas selbst, sondern Karl Vormfelde. Der Ostwestfale aus der Nähe von Enger bekleidete nach dem Krieg den Lehrstuhl für Landtechnik an der Universität Bonn. Als Bernhard Claas durch einen Zeitungsartikel auf ihn aufmerksam wurde, schrieb er ihm freundliche Zeilen: Ob er sich noch an ihn erinnere? Der Professor erinnerte sich. Was folgte, war eine Zusammenarbeit, die den Verlauf der europäischen Landwirtschaft verändern sollte. Gemeinsam entwickelten sie den ersten europäischen Mähdrescher – ein Modell, das nicht einfach kopiert, sondern angepasst war: kleiner, wendiger, wirtschaftlicher. Vormfelde, in der Fachwelt heute als Vorkämpfer dieser Technologie anerkannt, war damals ein einsamer Rufer in der Wüste – ein Mann, der an eine Vision glaubte, die anderen als Hirngespinst galt.
Doch die Geschichte dieser Industrie ist auch eine Geschichte des Scheiterns. Ähnlich wie im Automobilbau erkannten die meisten Hersteller, dass sie auf Dauer nur mit hohem Kapitalaufwand auf dem internationalen Markt bestehen konnten. Die Zeiten, in denen ein geschickter Schmied mit guten Ideen konkurrenzfähig war, waren vorbei. Globalisierung bedeutete Skaleneffekte, Forschungsbudgets, internationale Vertriebsnetze. Nur wenige Unternehmen wie Claas konnten diesen Weg einschlagen. Andere – Köckerling, Kuxmann, Geringhoff – behaupteten sich in Nischen, spezialisiert auf bestimmte Geräte oder Verfahren. Wieder andere wurden zu Zulieferern, produzierten Teile nicht nur für die Landwirtschaft, sondern auch für andere Branchen. Die meisten jedoch stellten irgendwann den Betrieb ein.
Was bleibt von dieser westfälischen Revolution? Zunächst ein scheinbares Paradox: Die Region, die entscheidend zur Industrialisierung der Landwirtschaft beitrug, verlor dabei ihre eigene ländliche Identität. Die Maschinen, die auf westfälischen Feldern getestet wurden, veränderten die Landwirtschaft weltweit – aber sie veränderten auch Westfalen selbst. Aus einer Agrarregion mit Industrieinseln wurde eine Industrieregion mit agraren Resten.
Und doch: Die DNA jener Schmieden, in denen alles begann, ist bis heute spürbar. Es ist eine DNA des praktischen Denkens, der Problemlösung, der schrittweisen Verbesserung. Keine brillanten Einzelerfindungen, sondern hartnäckige Entwicklungsarbeit. Kein Silicon-Valley-Glamour, sondern methodisches Tüfteln. Diese westfälische Herangehensweise – pragmatisch, ausdauernd, auf den konkreten Nutzen fokussiert – hat die Landwirtschaft nachhaltiger verändert als jede theoretische Vision.
Doch genau diese Tugenden werden heute auf eine neue Probe gestellt. Die E-Mobilität, die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz kündigen eine weitere industrielle Zäsur an – auch in der Landwirtschaft. Elektrische Antriebe, autonome Erntemaschinen, lernfähige Sensorik und cloudbasierte Flottensteuerung verändern die Logik der Produktion grundlegend. Geduldige Iteration allein wird diese Herausforderung nicht meistern. Sie verlangt die Integration neuer Kompetenzen – Software, Energiearchitektur, Datenethik – in ein traditionell mechanisch geprägtes Feld.
Für Unternehmen wie Claas bedeutet das nichts weniger als eine Neudefinition ihres Selbstverständnisses: vom Maschinenbauer zum Systemarchitekten vernetzter, intelligenter Agrartechnik. Vielleicht wird sich hier entscheiden, ob die westfälische Erfindungskraft, die einst die Landwirtschaft industrialisierte, auch die Digitalisierung der Landwirtschaft gestalten kann.
Die großen Namen sind bekannt geblieben: Claas vor allem, vielleicht noch Schlüter. Aber die Friedrich Ottomeyers, die Karl Vormfeldes, die Julius Tielbürgers, die zahllosen Schmiede und Konstrukteure, deren Innovationen in die Produkte anderer einflossen – sie sind vergessen. Das ist der Preis des Fortschritts: Er erinnert sich an Marken, nicht an Menschen. An Unternehmen, nicht an Ideen. An Sieger, nicht an jene, die den Weg bereiteten.
Vielleicht ist das auch eine sehr westfälische Art der Unsterblichkeit: nicht in Geschichtsbüchern weiterleben, sondern in jedem Mähdrescher, der über ein Feld fährt. In jeder Tonne Weizen, die mehr geerntet wird. In jeder Stunde, die ein Bauer nicht mehr auf dem Feld verbringen muss. Die westfälischen Landmaschinenpioniere haben keine Denkmäler bekommen. Aber sie haben die Welt ernähren geholfen – und das ist vielleicht das größte Denkmal, das man sich vorstellen kann.
