Von der Industriemetropole Bielefeld bis zu den Radwegen des Münsterlandes – keine Region verkörpert die deutsche Fahrradkultur so sehr wie Westfalen. Doch während die Produktion längst globalisiert ist, erlebt das Rad gerade eine Renaissance, die das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine neu definiert.
Es gibt Regionen, in denen eine technische Erfindung nicht einfach nur ankommt, sondern Wurzeln schlägt, die so tief reichen, dass sie Identität stiften. Westfalen und das Fahrrad: Das ist eine dieser seltenen Symbiosen, bei der Geografie, Mentalität und wirtschaftlicher Erfindergeist eine unverwüstliche Allianz eingegangen sind.
Die Wiege der deutschen Fahrradindustrie
Wenn von Fahrradstädten die Rede ist, denken die meisten zunächst an Münster – jene Stadt, die mit der höchsten Radverkehrsdichte Deutschlands aufwartet und deren Promenade zum Sinnbild einer fahrradfreundlichen Urbanität geworden ist. Doch die eigentliche industrielle Herzschlagader des westfälischen Fahrradbooms lag weiter östlich: in Bielefeld.
Die Zahlen sprechen für sich. In Spitzenzeiten stammte jedes fünfte Fahrrad in Deutschland aus Bielefelder Produktion. Namen wie Dürkopp, Göricke, Rixe und Anker stehen stellvertretend für eine Ära, in der Ostwestfalen zur Werkbank der deutschen Zweiradmobilität wurde. Besonders legendär: das Miele-Fahrrad, das in Kennerkreisen als nahezu unverwüstlich galt und gilt – ein rollender Beweis westfälischer Ingenieurskunst und Qualitätsanspruchs.
Doch es war nicht nur die Fertigung der Räder selbst, die wirtschaftliche Bedeutung entfaltete. Das „Drumherum“ – Zulieferer, Komponentenhersteller, Werkstätten – bildete ein dichtes Netzwerk, das einer ganzen Region Wohlstand bescherte.
Der Niedergang und die Überlebenden
Dann kam die Motorisierung. Was als Fortschritt gefeiert wurde, bedeutete für die Fahrradindustrie einen dramatischen Absatzeinbruch. Ein gnadenloser Preiskrieg setzte ein, der die meisten deutschen Hersteller vom Markt fegte. Die Globalisierung tat ihr Übriges: Produktion verlagerte sich nach Fernost, wo Löhne niedriger und Skaleneffekte größer waren.
In Bielefeld überlebten nur wenige: Hebie und die Fahrradmanufaktur Westerheide zählen heute zu einem elitären Kreis, der noch in Deutschland fertigt. Prophete aus Rheda-Wiedenbrück und die Panther-Werke aus Löhne sind zwar noch im Geschäft, haben die heimische Produktion aber nahezu eingestellt. Als die Panther-Werke ankündigten, die Produktion in Löhne komplett einzustellen, war das mehr als eine Unternehmensnachricht – es war ein Symbol für das Ende einer Ära.
Eine Sonderstellung nimmt Kettler ein: Das ursprünglich westfälische Unternehmen produziert heute zwar in Sankt Ingbert im Saarland – in einer der modernsten Fahrrad- und E-Bike-Produktionsstätten Europas –, zeigt aber, dass deutsche Fahrradproduktion mit Innovation und Qualität durchaus zukunftsfähig sein kann. E-Bikes und eine breitgefächerte Produktpalette belegen, dass der Schlüssel zum Überleben in der Anpassungsfähigkeit liegt.
Die Rückkehr des Rads – im digitalen Zeitalter
Und hier schließt sich der Kreis zur Gegenwart. Denn das Fahrrad erlebt derzeit eine Renaissance, die in ihrer Dynamik an die Gründerzeit der Industrie erinnert. Getrieben von Klimakrise, Verkehrsinfarkt und dem Wunsch nach urbaner Lebensqualität, wird das Rad wieder zur Mobilitätslösung der Stunde. Doch diesmal mit elektrischem Rückenwind.
E-Bikes boomen wie nie zuvor. Die Verkaufszahlen in Deutschland haben sich in den letzten zehn Jahren vervielfacht, und das Münsterland – ohnehin prädestiniert für Radtourismus mit seinen 4.500 Kilometern ausgeschilderter Radwege – profitiert massiv von diesem Trend. Neue Geschäftsmodelle wie Leasing-Angebote für Firmenräder machen das Fahrrad wieder zum Wirtschaftsfaktor, wenn auch in anderer Form als zu Dürkopp-Zeiten.
Sport, Kultur, Identität
Der Radsport war schon immer mehr als bloße Freizeitbeschäftigung – er war Treiber der Innovation und Katalysator für die Fahrradbegeisterung. Bielefeld stand auch hier an der Spitze, wovon die historische Radrennbahn zeugt. Das legendäre Sechstagerennen in Dortmund, das 2009 zum vorerst letzten Mal stattfand, hat Generationen geprägt. Heute ist der Münsterland Giro, das drittgrößte Radrennen Deutschlands, das größte aktuelle Radsportereignis der Region – ein Fest, das Profisport und Breitensport, Tradition und Moderne verbindet.
Keine andere Region Westfalens bietet sich so sehr für Radsport und Radtouren an wie das Münsterland. Die flache Topografie, die kulturelle Affinität und die touristische Infrastruktur machen es zum Paradies für alle, die auf zwei Rädern unterwegs sein wollen.
Eine Leerstelle und eine Frage
Umso erstaunlicher ist es, dass das einzige Fahrradmuseum in Westfalen auf dem Hof Westermeier in Salzkotten steht – und nicht in Bielefeld, der einstigen Hauptstadt der deutschen Fahrradindustrie. Es ist eine Leerstelle, die geradezu nach Füllung ruft. Ein Museum, das die Geschichte von Dürkopp bis zu den heutigen E-Bike-Innovationen erzählt, wäre nicht nur eine kulturelle Bereicherung, sondern auch ein Bekenntnis zu einer industriellen Tradition, die prägend für ganze Generationen war.
Ausblick: Die Zukunft fährt Rad
So viel ist jedenfalls sicher: Die innige Beziehung zwischen dem Fahrrad und Westfalen ist noch lange nicht am Ende. Im Gegenteil – sie könnte gerade eine neue Blütezeit erleben. Digitalisierung, E-Mobilität, Sharing-Konzepte: Das Fahrrad des 21. Jahrhunderts ist vernetzt, intelligent und nachhaltiger denn je.
Vielleicht wird Westfalen erneut zum Pionier. Nicht mehr als Produktionsstandort klassischer Stahlräder, aber als Labor für neue Mobilitätskonzepte, als Modellregion für fahrradfreundliche Infrastruktur, als Ort, an dem die urbane Verkehrswende praktisch erprobt wird.
Die Maschine, die einst auf so fruchtbaren Boden fiel, hat sich verwandelt. Aber sie ist geblieben. Und mit ihr eine Region, die versteht, dass Fortschritt manchmal bedeutet, auf das zurückzukommen, was sich bewährt hat – nur besser, klüger, zukunftsfähiger.
