Im 19. Jahrhundert verließen Tausende Westfalen ihre Heimat, um in der „Neuen Welt“ ihr Glück zu suchen. Unter ihnen waren visionäre Geister, die nicht nur ihre eigenen Träume verwirklichten, sondern ganze Branchen und Wissenschaftszweige prägten – von der Anthropologie bis zur Automobilindustrie, von der Medizin bis zur Spielzeugindustrie, von der Theologie bis zur Brauereikunst.


Der große Aufbruch

Das 19. Jahrhundert war geprägt von einer der größten Wanderungsbewegungen der Menschheitsgeschichte. Millionen Europäer verließen ihre Heimat, um in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Westfalen, das Herz Deutschlands, bildete dabei keine Ausnahme. Politische Unruhen, wirtschaftliche Not und der Traum von unbegrenzten Möglichkeiten trieben Menschen aus allen Gesellschaftsschichten über den Atlantik.

Doch was diese westfälischen Auswanderer besonders auszeichnete, war nicht nur ihr Mut zum Neuanfang, sondern ihre außergewöhnliche Fähigkeit, in der fremden Welt nicht nur zu überleben, sondern zu prosperieren. Ihre Geschichten lesen sich wie ein Kaleidoskop amerikanischer Erfolgsträume – und doch tragen sie alle die unverwechselbare Prägung ihrer westfälischen Herkunft.

Wissenschaftliche Pioniere: Wenn Westfalen die Welt erklären

Franz Boas, der 1858 in Minden geboren wurde, revolutionierte nichts Geringeres als unser Verständnis der menschlichen Kultur. Als „Vater der amerikanischen Anthropologie“ widersprach er den rassistischen Theorien seiner Zeit und entwickelte den kulturellen Relativismus. Seine westfälische Gründlichkeit und sein kritischer Geist prägten Generationen von Forschern und veränderten die Sozialwissenschaften nachhaltig.

Ähnlich wegweisend war Abraham Jacobi aus Hartum bei Minden, der als „Vater der amerikanischen Pädiatrie“ gilt. Seine medizinischen Innovationen retteten unzählige Kinderleben und etablierten die Kinderheilkunde als eigenständige Disziplin. Jacobis Geschichte ist dabei besonders bemerkenswert: Als politischer Flüchtling nach der Revolution von 1848 gekommen, wurde er zu einem der angesehensten Mediziner seiner Epoche.

Visionäre der Technik: Westfälische Ingenieure erobern Amerika

Die Automobilgeschichte wäre ohne die Gebrüder Düsenberg unvollständig. Fred und August Düsenberg, deren Familie aus dem Lippe-Land stammte, schufen mit ihren luxuriösen Sportwagen eine Legende. „It’s a Duesenberg“ wurde zum Synonym für höchste Qualität und technische Perfektion – ein Erbe westfälischer Handwerkskunst, das die amerikanische Automobilindustrie prägte.

Ebenso beeindruckend ist die Geschichte von Wilhelm Böing, dessen Name heute jeden Himmel der Welt durchquert. Der aus dem westfälischen Raum stammende Gründer der Boeing Company verwandelte seinen Traum vom Fliegen in ein Luftfahrtimperium, das die Welt für immer veränderte.

Kulturelle Wegbereiter: Kunst, Musik und Emanzipation

Elisabet Ney aus Münster sprengte alle Konventionen ihrer Zeit. Als Bildhauerin in einer von Männern dominierten Welt schuf sie nicht nur bedeutende Kunstwerke, sondern wurde zu einer Ikone der Frauenemanzipation. Ihre Skulpturen stehen heute in den wichtigsten Museen Amerikas und Texas ehrte sie mit einem eigenen Museum.

Das Ehepaar Fritz und Mathilde Anneke verkörperte den politischen und gesellschaftlichen Aufbruch ihrer Zeit. Als Verfechter der Demokratie und Frauenrechte prägten sie die deutsch-amerikanische Presse und kämpften für ihre Ideale – Fritz sogar mit der Waffe in der Hand im amerikanischen Bürgerkrieg.

Gustave Kerker brachte die Musik seiner westfälischen Heimat nach New York und wurde zu einem der erfolgreichsten Komponisten des Broadway. Seine Operetten erfreuten Millionen und zeigten, dass kultureller Transfer keine Einbahnstraße ist.

Eine ganz besondere Erfolgsgeschichte schrieb Friedrich Wilhelm Murnau aus Bielefeld, der als einer der bedeutendsten Filmregisseure der Stummfilmära Geschichte machte. Seine revolutionäre Kameraführung und seine Meisterwerke wie „Nosferatu“ und „Sonnenaufgang“ (das bei der ersten Oscarverleihung drei Oscars gewann) prägten das junge Medium Film nachhaltig. Obwohl sein Leben 1931 bei einem Autounfall in Kalifornien endete, gilt er bis heute als Pionier der Filmkunst, dessen Techniken moderne Regisseure noch immer beeinflussen.

Geistliche Wegweiser: Theologie aus Westfalen

Eine besondere Bedeutung für das amerikanische Geistesleben erlangte Reinhold Niebuhr, dessen Vater aus dem lippischen Lage stammte. Als einer der einflussreichsten Theologen des 20. Jahrhunderts, oft als „Präzeptor Amerikas“ bezeichnet, prägte Niebuhr mit seiner „Christian Realism“-Theologie sowohl die amerikanische Kirche als auch die Politik. Seine berühmte „Serenity Prayer“ und seine Überlegungen zur Verbindung von Glaube und gesellschaftlicher Verantwortung beeinflussten Generationen von Denkern und Politikern.

Unternehmergeist: Vom lokalen Handwerk zum Weltkonzern

Frederick August Otto Schwarz verwandelte eine simple Geschäftsidee in ein Spielzeugimperium. Sein „FAO Schwarz“ wurde zum Inbegriff des amerikanischen Spielzeuggeschäfts und brachte Kinderträume in die ganze Welt.

Die Griesedieck-Familie aus Stromberg brachte ihre jahrhundertealte Brautradition nach St. Louis und wurde zu einer der einflussreichsten Brauereidynastien Amerikas. Anton Griesedieck gründete 1866 ein Bierimperium, das zeitweise drei große Brauereien umfasste und mit der berühmten Marke Griesedieck Brothers jahrzehntelang die beliebteste Biermarke von St. Louis stellte.

Weniger rühmlich, aber nicht weniger spektakulär war die Karriere von Adolph Lütgert aus Gütersloh, der zum „Wurstkönig von Chicago“ aufstieg. Seine A.L. Luetgert Sausage & Packaging Company machte ihn vermutlich zum größten Wurstfabrikanten der USA, bevor ein Mordprozess um seine verschwundene Ehefrau seine Karriere beendete – ein dunkles Kapitel westfälischer Auswanderergeschichte.

Adrian Wewer und Heinrich Heide zeigten ebenfalls, wie westfälischer Unternehmergeist in der Neuen Welt aufblühte und ganze Branchen prägte.

Das westfälische Erbe in Amerika

Was vereint all diese so unterschiedlichen Lebenswege? Es ist mehr als nur die gemeinsame geografische Herkunft. Diese westfälischen Pioniere teilten bestimmte Charakterzüge: eine pragmatische Herangehensweise an Probleme, eine tiefe Arbeitsmoral, die Fähigkeit zur Innovation und – vielleicht am wichtigsten – den Mut, etablierte Grenzen zu überschreiten.

Sie alle verließen eine Heimat, die ihnen zu eng geworden war, und fanden in Amerika den Raum, ihre Visionen zu verwirklichen. Dabei vergaßen sie ihre Wurzeln nie, sondern trugen westfälische Tugenden in die Neue Welt und bereicherten sie um eine europäische Perspektive.

Vermächtnis einer Wanderung

Die Geschichten dieser westfälischen Amerikaner erzählen von mehr als nur individuellen Erfolgen. Sie spiegeln die transformative Kraft der Migration wider – sowohl für die Auswanderer selbst als auch für ihre neue Heimat. Amerika wurde durch Menschen wie sie zu dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, als das es in die Geschichte eingegangen ist.

Heute, in einer Zeit erneuter Migrationsbewegungen, erinnern uns diese Lebensläufe daran, welche Bereicherung es bedeuten kann, wenn Menschen den Mut fassen, bekannte Pfade zu verlassen. Die westfälischen Pioniere des 19. Jahrhunderts zeigten, dass Heimat nicht nur ein Ort ist, den man verlässt, sondern auch einer, den man erschafft – mit Vision, Entschlossenheit und der Bereitschaft, Brücken zwischen Welten zu bauen.

Ihr Vermächtnis lebt fort – in den Unternehmen, die sie gründeten, in den Wissenschaftszweigen, die sie prägten, und in dem Bewusstsein, dass große Veränderungen oft von denen ausgehen, die wagten, ihre Heimat zu verlassen, um eine neue zu finden.


Quelle:

Westfalen in Amerika – Amerikanetz

F.A.O Schwarz – das älteste und bekannteste Spielzeuggeschäft der USA mit westfälischen Wurzeln

Von Rolevinck

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