Von wandernden Händlern zu globalen Konzernen – die Geschichte der westfälischen Textilbranche ist eine Erzählung von Pioniergeist, wirtschaftlichem Glanz und dramatischen Umbrüchen. Bis heute prägt kaum eine andere Branche die Region so nachhaltig.


Eine Region webt ihre Geschichte

Wie nur wenige andere Wirtschaftszweige hat die Textilbranche Westfalen geprägt. Wer durch die Städte des Münsterlandes, Ostwestfalens oder des Sauerlandes reist, begegnet auf Schritt und Tritt den Spuren einer Industrie, die einst Tausende beschäftigte, Familiendynastien begründete und ganze Stadtbilder formte. Obwohl die „Goldenen Jahre“ längst in der Vergangenheit liegen, ist die Anzahl der Unternehmen im Bereich Textilherstellung und -handel noch immer erstaunlich hoch – ein Erbe, das tief in der DNA der Region verankert ist.

Die Tödden: Pioniere des Textilhandels

Am Anfang dieser bemerkenswerten Entwicklung standen die Tödden, jene legendären Wanderhändler aus dem nördlichen Münsterland, die im 18. und 19. Jahrhundert mit ihren Rucksäcken voller Leinen durch halb Europa zogen. Was als bescheidenes Handelsgeschäft begann, legte den Grundstein für zwei der bekanntesten Handelsimperien Europas: In der Nachfolge der Tödden stehen heute die Brenninkmeyers von C&A und die Familie Peek & Cloppenburg – Namen, die in nahezu jeder europäischen Einkaufsstraße präsent sind.

Die Erfolgsgeschichte der Tödden basierte auf einem einfachen, aber wirkungsvollen Prinzip: Sie erkannten früh die Bedeutung weitreichender Handelsnetze und internationaler Kontakte. Der Grundstein war gelegt für eine Handelskultur, die Westfalen bis heute prägt.

Bielefeld: Die Fabrik der Industrialisierung

Waren die Tödden vorwiegend im Handel aktiv, so bildete sich im 19. Jahrhundert in und um Bielefeld ein Zentrum der Textilherstellung. Gleich zwei Pionierbetriebe markierten den Beginn der industriellen Revolution in der Region: die Spinnerei Vorwärts der Brüder Bozi und die Ravensberger Spinnerei der Industriellenfamilie Delius.

Die Spinnerei Vorwärts, 1850 von Carl Bozi und seinen Brüdern gegründet, war das erste deutsche textilindustrielle Unternehmen, das mit Dampfkraft arbeitete. Carl Bozi, Sohn eines aus Ungarn stammenden ehemaligen Kleinbauern, hatte zuvor in Belfast Erfahrungen in der Leinenindustrie gesammelt und brachte diese Kenntnisse nach Westfalen. Die Handspinner des Ravensberger Landes sahen ihre Absatzchancen bedroht und leisteten massiven Widerstand gegen die neue Technologie. Doch der technische Fortschritt ließ sich nicht aufhalten – die Spinnerei Vorwärts wurde zu einer Pionierin der industriellen Entwicklung in Deutschland.

Die Ravensberger Spinnerei, eng mit der Familie Delius verbunden, entwickelte sich zur größten Flachsspinnerei Europas. Ihre monumentalen Fabrikgebäude, die noch heute das Stadtbild prägen, zeugen von einer Ära, in der mechanische Webstühle und Dampfmaschinen eine ganze Region transformierten. Schon die Namensgebung der Ravensberger Spinnerei spiegelte das durchaus gespannte Verhältnis zwischen den alten Eliten und den neuen Industriellen wider.

Die Familie Delius verkörperte den Typus des aufgeklärten Industriellen: wirtschaftlich erfolgreich, aber auch sozial engagiert. Arbeitersiedlungen, Bildungseinrichtungen und kulturelle Stiftungen entstanden im Schatten der Fabrikschornsteine. Bielefeld entwickelte sich zur „Leineweberstadt“, ein Ruf, der bis heute nachhallt.

Aufstieg und Fall: Das Drama von Gronau

Ein weiteres bedeutendes Unternehmen der Textilherstellung war die van Delden-Gruppe aus Gronau, deren Geschichte exemplarisch für die Dramatik der Branche steht. Nach einer rasanten Wachstumsphase während der ersten Nachkriegsjahrzehnte, in der das Unternehmen zu einem der größten Textilproduzenten Deutschlands aufstieg, verschwand es im Jahr 1982 vom Markt. Der Zusammenbruch war ein Schock für die gesamte Region und markierte das Ende einer Ära: Die Verlagerung der Produktion nach Asien, der internationale Preisdruck und veränderte Konsumgewohnheiten machten vielen traditionsreichen Unternehmen den Garaus.

Überlebenskünstler in schwierigen Zeiten

Trotz des Niedergangs zahlreicher namhafter Unternehmen aus der Textilbranche haben es einige geschafft, sich auf dem hartumkämpften Markt zu behaupten – zumindest zeitweise. Ihre Strategien waren unterschiedlich, doch selbst kluge Anpassung garantierte nicht immer das Überleben.

Die Gerry Weber AG, 1972 gegründet – zu einer Zeit, als die Textilbranche eine ihrer größten Krisen überhaupt erlebte – galt lange als Erfolgsgeschichte gegen den Trend. Doch die Insolvenz holte auch dieses Unternehmen ein; heute ist Gerry Weber nur noch ein Schatten seiner selbst. Eine Mahnung daran, dass auch scheinbar etablierte Player den Strukturwandel nicht dauerhaft aufhalten können.

Auch die Ahlers-Gruppe aus Herford, einst ein Aushängeschild der Region, wurde schließlich verkauft – ein weiteres Kapitel im Niedergang traditioneller Textilunternehmen.

Die Seidentsticker-Gruppe aus Bielefeld, Europas größter Hersteller von Oberhemden, und die Bugatti/Brinkmann-Gruppe aus Herford zählen zu den wenigen, die sich bislang behaupten konnten. Doch ihre Geschichten zeigen: Deutsche Textilproduktion kann im Zeitalter der Globalisierung nur dann bestehen, wenn sie sich auf profitable Nischen konzentriert und einen Mehrwert bietet, der weit über den reinen Preis hinausgeht – und selbst das ist keine Garantie.

Prestige und Wandel

Der Hersteller gehobener Bekleidung für Damen und Herren, Windsor aus Bielefeld, durchlief mehrere Eigentümerwechsel und befindet sich heute im Besitz der Gebrüder Holy, den ehemaligen Inhabern von Hugo Boss. Vorheriger Eigentümer von Windsor war die Familie Oetker. Die Übernahme durch externe Investoren zeigt exemplarisch, wie die traditionellen westfälischen Familienunternehmen zunehmend in andere Hände übergehen.

JAB Anstoetz, ebenfalls aus Bielefeld, ging einen anderen Weg und positionierte sich als einer der größten Textilverlage der Welt. Das Unternehmen konzentrierte sich auf hochwertige Dekorationsstoffe und bewies, dass auch jenseits der klassischen Bekleidung Erfolg möglich ist.

Das für seine Frottierwaren bekannte Unternehmen Vossen beschäftigte an seinem ehemaligen Stammsitz Gütersloh und weiteren Werken in Spitzenzeiten mehr als 4.000 Mitarbeiter. Inzwischen hat Vossen seinen Firmensitz nach Österreich verlegt – ein Verlust für die Region, aber auch ein Zeichen für die Mobilität des Kapitals in globalisierten Märkten.

Mit seinen Strumpfwaren hat sich Falke aus Schmallenberg im Sauerland einen Namen gemacht und beweist, dass auch in peripheren Regionen Westfalens Textilkompetenz entstehen konnte.

Die neue Welt des Textildiscounts

Der Textilhandel hat in Westfalen in den letzten Jahren eine neue Blüte erlebt, die sich jedoch fast ausschließlich auf den Bereich Textildiscount beschränkt. Die „Shooting Stars“ der Branche sind Ernstings Family aus Coesfeld, Kik aus Bönen bei Hamm und Takko aus Telgte. Im Besitz einer einzigen Familie befindet sich nur noch Ernstings Family – bei den anderen beiden haben Finanzinvestoren das Ruder übernommen.

Diese neue Generation von Textilhändlern steht für einen radikalen Bruch mit der Tradition: Statt auf Qualität und Langlebigkeit setzen sie auf schnelle Warenrotation, niedrigste Preise und aggressive Expansion. Die Kehrseite dieser Strategie zeigt sich in den Produktionsbedingungen: Takko und Kik stehen insbesondere wegen ihrer Arbeitsbedingungen in den Zulieferländern immer wieder in der Kritik. Zuletzt geriet Takko in die Schlagzeilen, doch den traurigen Rekord hält Kik – das Unternehmen wurde mit dem verheerenden Fabrikbrand in Pakistan 2012 in Verbindung gebracht, bei dem mehr als 250 Menschen starben.

Der Erfolg der Discounter wirft fundamentale Fragen auf: Was ist uns Kleidung wert? Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen – nicht nur an der Kasse, sondern auch in Bezug auf soziale und ökologische Standards? Die Geschichte der westfälischen Textilindustrie scheint einen Kreis zu beschreiben: Von den Tödden, die zu Fuß durch Europa zogen, über die großen Fabriken der Industrialisierung bis hin zu globalen Lieferketten, deren Komplexität jede Verantwortung zu verschleiern scheint.

Ein Erbe bewahren

Ein Forum der Textilkultur, nicht nur Westfalens, bietet das LWL-Industriemuseum in Bocholt. Hier wird sichtbar, was die Region einst ausmachte: handwerkliches Können, unternehmerischer Mut und die Fähigkeit, aus einfachen Rohstoffen Werte zu schaffen. Das Museum erinnert daran, dass Textilindustrie mehr ist als nur Wirtschaft – sie ist Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, Menschheitsgeschichte.

Die westfälische Textilbranche steht heute an einem Scheideweg. Die alten Fabriken sind entweder verschwunden oder zu Kulturdenkmälern umgewidmet. Die großen Namen kämpfen ums Überleben oder haben längst aufgegeben. Gleichzeitig boomen die Discounter, deren Geschäftsmodell auf Strukturen basiert, die den sozialen Standards der alten Industriellenfamilien Hohn sprechen würden.

Doch vielleicht liegt gerade in dieser Spannung eine Chance: Die Rückbesinnung auf Qualität, Nachhaltigkeit und faire Produktion könnte eine neue, dritte Blüte der westfälischen Textilkultur einläuten. Die Kompetenz ist vorhanden, die Tradition ist da – nun braucht es nur noch den Mut, alte Werte neu zu interpretieren. Westfalen hat bewiesen, dass es das kann.

Von Rolevinck

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