Wie Grenzen, Räume und Identitäten eine Region formen

Eine interdisziplinäre Tagung in Soest im Jahr 2007 hinterfragte das traditionelle Westfalenbild und deckte die vielschichtigen Prozesse regionaler Identitätsbildung auf. Experten aus Geschichte, Sprachwissenschaft und Geographie zeigten: Westfalen ist weit mehr als nur ein geografischer Begriff – es ist ein komplexes kulturelles Konstrukt.


Was macht eine Region aus? Sind es geografische Grenzen, gemeinsame Geschichte oder kulturelle Eigenarten? Diese Fragen standen im Zentrum einer wegweisenden Tagung, die das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte gemeinsam mit der Historischen Kommission für Westfalen und der Abteilung für Westfälische Landesgeschichte der Universität Münster am 13. und 14. September 2007 in Soest veranstaltete. Die Hansestadt bot dabei einen symbolträchtigen Rahmen für die Diskussion über Raum, Grenze und Identität in der westfälischen Geschichte.

Neue Wege in der Regionalforschung

Die Tagung markierte einen wichtigen Wendepunkt in der landes- und regionalgeschichtlichen Forschung. Bernd Walter von der Universität Münster eröffnete die Diskussion mit einer kritischen Bestandsaufnahme der Disziplin. Er thematisierte das spannungsreiche Verhältnis zwischen lokaler Besonderheit und übergreifenden historischen Entwicklungen und plädierte für eine methodische Erneuerung, die über traditionelle Ansätze hinausgeht.

Den theoretischen Rahmen lieferte Gerd Schwerhoff aus Dresden mit seiner Analyse des „spatial turn“ – jener Wende in den Kulturwissenschaften, die den Raum als soziales und kulturelles Konstrukt in den Mittelpunkt rückt. Seine Unterscheidung zwischen absoluten und relationalen Raumkonzepten erwies sich als Schlüssel für das Verständnis westfälischer Regionalentwicklung. Ergänzend beleuchtete der Dortmunder Geograf Hans Heinrich Blotevogel, wie Räume entstehen, wahrgenommen und wieder dekonstruiert werden können – eine Perspektive, die für das Verständnis Westfalens als „gemachte“ Region fundamental ist.

Westfälische Identität im Wandel

Gunnar Teske von der Universität Münster führte die Teilnehmer durch die komplexe Geschichte westfälischer Raumvorstellungen. Seine Analyse zeigte, wie sich regionale Identitäten über Jahrhunderte entwickelten und dabei immer wieder Transformationen durchliefen. Besonders aufschlussreich erwies sich Werner Freitags Untersuchung zur Rolle der Religion. Entgegen landläufiger Vorstellungen entwickelte sich im 19. Jahrhundert ein überkonfessionelles Westfalenbild, das katholische und protestantische Traditionen zu einer gemeinsamen regionalen Identität verschmolz.

Eine weitere Dimension eröffnete Jürgen Macha mit seiner sprachwissenschaftlichen Perspektive. Seine Analyse der sprachlichen Raumgliederung Westfalens verdeutlichte, wie sich kulturelle Identitäten auch über Sprache und Dialekt konstituieren und dabei Grenzen schaffen, die nicht immer mit politischen oder geografischen Grenzziehungen übereinstimmen.

Wirtschaft und Verwaltung als Raumbildner

Die wirtschaftshistorische Betrachtung Wilfried Reininghaus‘ aus Düsseldorf relativierte das Bild eines einheitlichen Westfalens erheblich. Seine Forschungen zeigten, dass die Region um 1800 aus wirtschaftlich höchst unterschiedlichen Teilräumen bestand – von industriellen Zentren bis hin zu agrarisch geprägten Gebieten. Diese Heterogenität stellte die Vorstellung einer natürlich gewachsenen regionalen Einheit grundlegend in Frage.

Nicolas Rügge aus Osnabrück beleuchtete die administrative Dimension der Raumbildung. Seine Untersuchung verdeutlichte, wie Herrschaftsstrukturen und Verwaltungsgrenzen aktiv zur Konstruktion regionaler Identitäten beitrugen. Rechtliche Normen und bürokratische Praktiken erwiesen sich dabei als mächtige Instrumente der Raumkonstitution.

Karl Ditt von der Universität Münster widmete sich der Kulturpolitik des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Seine Analyse der ideologischen Grundlagen regionaler Kulturförderung im 19. und 20. Jahrhundert offenbarte, wie bewusst an der Konstruktion einer westfälischen Identität gearbeitet wurde – mit allen problematischen Implikationen, die solche Identitätspolitik mit sich bringen kann.

Grenzen und Nachbarschaften

Besonders erhellend waren die Beiträge zu den Wechselwirkungen Westfalens mit seinen Nachbarregionen. Stephan Gorißen aus Bielefeld und Alwin Hanschmidt aus Vechta analysierten die komplexen Beziehungen zum Rheinland und zu Niedersachsen. Ihre Forschungen zeigten, dass regionale Identitäten oft erst in Abgrenzung zu anderen entstehen und sich in einem permanenten Dialog mit Nachbarregionen entwickeln.

Guillaume van Gemert von der Universität Nijmegen erweiterte den Blick über nationale Grenzen hinaus. Seine Untersuchung niederländischer Wahrnehmungen Westfalens verdeutlichte, wie Fremd- und Selbstbilder miteinander korrespondieren und sich gegenseitig beeinflussen. Regionale Identität erwies sich dabei als ein Produkt komplexer Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Akteuren und Perspektiven.

Dietmar von Reeken aus Oldenburg beleuchtete schließlich die konfliktreichen Aspekte regionaler Identitätsbildung. Seine Analyse der Auseinandersetzungen zwischen Niedersachsen und Westfalen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte, wie regionale Zugehörigkeiten politisch instrumentalisiert und ideologisch aufgeladen werden können.

Ein neues Westfalenbild

Die Soester Tagung hinterließ ein grundlegend verändertes Bild Westfalens. Statt einer natürlich gewachsenen regionalen Einheit erwies sich die Region als komplexes Konstrukt, das durch vielfältige historische, soziale und kulturelle Faktoren geformt wurde. Die interdisziplinäre Herangehensweise brachte dabei neue Erkenntnisse hervor, die weit über die Westfalenforschung hinausreichen.

Die Dekonstruktion des traditionellen „Einheitsbilds“ eröffnete den Blick für die Vielfalt und Dynamik der westfälischen Teilräume. Gleichzeitig wurde deutlich, dass regionale Identitäten nicht statisch sind, sondern sich in permanenten Transformationsprozessen befinden. Diese Erkenntnisse bieten wichtige Impulse für die weitere Forschung und zeigen, wie fruchtbar die Verbindung von Geschichte, Sprachwissenschaft und Geographie sein kann.

Die Tagung markierte damit einen wichtigen Meilenstein in der Erforschung regionaler Identitäten und lieferte methodische Ansätze, die auch für andere Regionen von Bedeutung sind. Sie verdeutlichte, dass die Beschäftigung mit Raum, Grenze und Identität nicht nur historisches Interesse befriedigt, sondern auch für das Verständnis gegenwärtiger regionaler Entwicklungen unverzichtbar ist.

Quelle:

Räume, Grenzen, Identitäten – Westfalen als Gegenstand landes- und regionalgeschichtlicher Forschung

Von Rolevinck

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