Während Albrecht Dürer als strahlender Stern der Kupferstechkunst gilt, schufen im Verborgenen westfälische Meister Werke von außergewöhnlicher Qualität. Von Bocholt über Paderborn bis Warburg – eine Spurensuche nach den vergessenen Virtuosen der Druckgrafik.


Die Linien sind fein wie Spinnweben, präzise wie der Strich eines Chirurgen. Im 15. und 16. Jahrhundert, als die Kupferstecherei ihre Blütezeit erlebte, verwandelten Künstler metallene Platten in Meisterwerke der Druckgrafik. Albrecht Dürer und Meister E.S. sind die Namen, die heute noch jedem Kunstliebhaber vertraut sind – leuchtende Fixsterne am Firmament der Renaissance. Doch in ihrem Schatten wirkten Künstler, deren Bedeutung erst allmählich wiederentdeckt wird: die westfälischen Kupferstecher.

Westfalen war im 16. Jahrhundert keineswegs die kulturelle Provinz, als die man die Region heute vielleicht vorschnell abstempeln würde. In den Städten zwischen Rhein und Weser entstanden Werke, die sich mit den berühmten Nürnberger und Kölner Arbeiten messen konnten. Der 1502 in Paderborn geborene Heinrich Aldegrever steht exemplarisch für diese verborgene Hochkultur. Man sagt ihm nach, er habe in direktem Kontakt mit Albrecht Dürer gestanden – ob dies historisch belegt ist oder ob es sich um eine jener kunsthistorischen Legenden handelt, die mehr über unseren Wunsch nach Kontinuität als über die Realität aussagen, bleibt offen. Gewiss jedoch ist, dass Aldegrever von Dürers Arbeiten inspiriert wurde, dass er dessen formale Strenge und technische Brillanz studierte und in eigene Bildwelten übersetzte.

Um sein Andenken wachzuhalten und die grafischen Künste zu fördern, wurde 1941 in Münster die Aldegrever-Gesellschaft gegründet – ein bemerkenswerter Akt kultureller Selbstvergewisserung mitten im Zweiten Weltkrieg, als die Welt in Trümmern lag und die Kunst um ihr Überleben kämpfte.

Noch bedeutender als Aldegrever war ein Mann, dessen Name heute selbst unter Kunsthistorikern nur noch selten fällt: Israhel von Meckenem der Jüngere, der in Bocholt wirkte. Als Schüler des Meister E.S. gilt er heute als bedeutendster Kupferstecher der Spätgotik – eine Einordnung, die umso bemerkenswerter ist, als die Spätgotik gemeinhin als Epoche des Übergangs, der Unruhe und des noch nicht ganz Vollendeten gilt. Von Meckenem aber beherrschte sein Handwerk mit einer Souveränität, die jeden Zweifel verstummen lässt. Im Jahr 2009 würdigte eine Ausstellung sein Werk, begleitet von einem informativen Kurzfilm – späte Genugtuung für einen Meister, der zu Lebzeiten gewiss höheres Ansehen genoss als in den Jahrhunderten danach.

Warburg, heute eine beschauliche Kleinstadt im Kreis Höxter, brachte gleich zwei bedeutende Kupferstecher hervor. Anton Eisenhoit, 1553 geboren, genießt unter Kunstkennern wegen seiner künstlerischen und technischen Meisterschaft einen exzellenten Ruf. Roderich Irmer ging in einem Beitrag so weit, Eisenhoit als einen deutschen Benvenuto Cellini zu bezeichnen – ein Vergleich, der gewagt scheint und doch eine Wahrheit enthält: Wie der italienische Universalkünstler vereinte Eisenhoit höchstes handwerkliches Können mit künstlerischer Vision. Vor allem seine Silber- und Goldschmiedearbeiten begründen bis heute seinen Ruhm in der Kunstwelt. Sein Kupferstich „Pilatus zeigt Christus dem Volk“ ist ein Meisterwerk der religiösen Druckgrafik, das die dramatische Szene mit einer Intensität einfängt, die den Betrachter auch nach Jahrhunderten noch in ihren Bann zieht.

Ebenfalls aus Warburg stammte Josef Kohlschein, der fast hundert Platten stach – eine beeindruckende Produktivität, die von einer tiefen Hingabe an das Medium zeugt. Die Kupferstecherei war mühsam, erforderte endlose Geduld und absolute Präzision. Jeder Strich war endgültig, jeder Fehler nur schwer zu korrigieren.

Friedrich Wilhelm Delckeskamp wählte in seinen Kupferstichen häufig die Stadt Frankfurt und die Rhein-Main-Region als bevorzugte Motive. Seine Arbeiten sind Dokumente städtischer Identität, festgehaltene Augenblicke einer Epoche, die uns heute fremd und doch seltsam vertraut erscheint. In seinen Stichen wird die Stadt zum Portrait, zur Selbsterzählung in Linien und Schraffuren.

Ein weiterer bedeutender Kupferstecher war Johann Joseph Freidhoff, dessen Arbeiten von keinem Geringeren als Johann Wolfgang von Goethe mit Lob überschüttet wurden. Wenn Goethe, dieser unerbittliche Kritiker, dieser Mann von universellem Kunstverstand, ein Werk lobte, dann war dies kein höfliches Kompliment, sondern ein Ritterschlag.

Die westfälischen Kupferstecher waren keine Epigonen, keine bloßen Nachahmer der großen Namen ihrer Zeit. Sie schufen eigenständige Bildwelten, entwickelten technische Innovationen und trugen zur Verbreitung von Bildern in einer Zeit bei, als Reproduktionstechniken noch in den Kinderschuhen steckten. Ihre Werke waren Massenmedien avant la lettre, verbreiteten religiöse Motive, politische Botschaften und künstlerische Ideen weit über die Grenzen ihrer Heimatstädte hinaus.

Dass viele dieser Namen heute vergessen sind, sagt mehr über die Mechanismen kultureller Erinnerung aus als über die Qualität ihrer Arbeit. Kunstgeschichte ist selektiv, sie erinnert an Gipfel und vergisst die Bergkette. Die Aldegrever-Gesellschaft in Münster leistet wichtige Arbeit, wenn sie diese vergessenen Meister ins Bewusstsein zurückholt.

Denn in den feinen Linien ihrer Kupferstiche liegt nicht nur technisches Können, sondern auch ein Stück Kulturgeschichte – die Geschichte einer Region, die kunstvoller war, als man es ihr heute zutraut.

Von Rolevinck

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