Die offiziellen Zahlen zeichnen das Bild einer prosperierenden IT-Region. Doch hinter der Fassade zeigt sich ein Standort im Krisenmodus: Traditionsunternehmen verschwinden, Großarbeitgeber straucheln, und die vermeintliche Branchenvielfalt entpuppt sich als gefährliche Monokultur. Ein Essay über den schleichenden Strukturwandel einer ostwestfälischen Stadt, die mehr verliert als nur Arbeitsplätze.


Die Illusion der Diversität

Wer die Wirtschaftsstatistiken Paderborns studiert, begegnet zunächst beruhigenden Zahlen: eine breite IT-Landschaft, innovative Technologieunternehmen, eine traditionsreiche Industriebasis. Die Wirklichkeit erzählt eine andere Geschichte. Hinter der statistischen Vielfalt verbirgt sich eine prekäre Abhängigkeit von wenigen Großakteuren und eine Branchenstruktur, die ihre eigene Fragilität systematisch verschleiert.

Die Stadt lebt wirtschaftlich vor allem von zwei Säulen: Diebold Nixdorf und Benteler. Beide Unternehmen zählen zu den größten Gewerbesteuerzahlern und Arbeitgebern der Region. Doch gerade Diebold Nixdorf durchlebte in den vergangenen Jahren eine dramatische Insolvenz und Restrukturierung. Die finanzielle Erholung bleibt fragil, der nächste Einbruch könnte nicht nur tausende Arbeitsplätze kosten, sondern auch den städtischen Haushalt in ernsthafte Bedrängnis bringen. Was in Pressemitteilungen als diversifizierte Wirtschaftsstruktur dargestellt wird, erweist sich bei genauerer Betrachtung als hochriskante Konzentration.

Das Phantom der IT-Metropole

Besonders augenfällig wird die Diskrepanz zwischen Selbstbild und Realität im IT-Sektor. Paderborn inszeniert sich gerne als Technologiestandort, gestützt auf die Universität und eine vermeintlich dynamische Gründerszene. Der Technologiepark Paderborn, die Garage 33 als städtisches Gründerzentrum und die vollmundig betitelte Zukunftsmeile werden in Hochglanzbroschüren als Beweis für innovative Kraft präsentiert. Doch hinter der Fassade dieser Institutionen wird ein grundlegendes Problem sichtbar: Tatsächlich dominiert ein Geschäftsmodell, das kaum nachhaltige Wertschöpfung generiert: Body-Leasing. Die Mehrheit der lokalen IT-Firmen verleiht Einzelspezialisten als verlängerte Werkbank größerer Auftraggeber. Eigene Produkte, skalierbare Plattformen, echte Innovation? Fehlanzeige.

Auch der Technologiepark, der als Kristallisationspunkt technologischer Exzellenz gedacht war, beherbergt überwiegend Unternehmen, die im Projektgeschäft und in der Personalüberlassung tätig sind. Die Garage 33 mag junge Gründer anziehen, doch aus wie vielen dieser Start-ups werden tatsächlich nachhaltige, wachstumsstarke Unternehmen? Und die Zukunftsmeile – der Name selbst klingt wie eine Marketingformel, die über die Abwesenheit tatsächlicher Zukunftsperspektiven hinwegtäuschen soll. Die Erfolgsquote bleibt ernüchternd.

Die Ausnahme bestätigt die Regel: dSPACE, mit rund 2.800 Mitarbeitenden weltweit und einem Umsatz von etwa 460 Millionen Euro im Jahr 2024, entwickelt eigenständige Hard- und Softwarelösungen für die Automobilindustrie. Doch dSPACE steht nahezu allein. Der Rest der IT-Landschaft besteht aus kleinen Dienstleistern mit begrenzter Innovationskraft, volatilen Auftragsbüchern und keiner nennenswerten Differenzierung im Wettbewerb.

Die Liste der verschwundenen IT-Größen liest sich wie ein Nachruf auf eine ganze Epoche: Orga Systems, Morpho Cards, Wincor Nixdorf, Teamwork, Fujitsu, Flextronics. Alle haben den Standort verlassen oder wurden abgewickelt. Jede dieser Schließungen kostete hunderte bis tausende Arbeitsplätze. Und nun steht mit Atos der nächste Kandidat unter massivem Druck. Der Standort Paderborn mag noch als Forschungs- und Entwicklungsstandort geführt werden, doch die Risiken sind hoch. Nach einer dramatischen Restrukturierung weltweit bleibt die wirtschaftliche Lage angespannt. Sollten größere öffentliche Aufträge ausbleiben, wäre eine Schließung keine Überraschung mehr.

Der generative Schock

Hinzu kommt ein neues, umfassendes Risiko: die disruptive Kraft generativer KI-Technologien. Viele der kleinen und mittleren IT-Unternehmen in Paderborn stehen vor der Herausforderung, ihre Geschäftsmodelle radikal anzupassen. Was jahrelang funktionierte – klassische Softwareentwicklung, technische Dienstleistungen, Beratung – gerät unter Druck, wenn große Anbieter KI-Tools immer günstiger und skalierbarer bereitstellen. Das Transformationsrisiko ist real, der mögliche Arbeitsplatzabbau absehbar. Die vermeintliche KI-Kompetenz der Region erweist sich im Wettbewerb nicht als nachhaltig differenzierend.

Industrieller Kahlschlag

Auch jenseits der IT-Branche setzt sich die Erosion fort. Penn Elastic, einst bedeutender Textilhersteller, meldete im Februar 2025 Insolvenz an. 220 Mitarbeitende verloren ihre Perspektive. Stute Konfitüren, das traditionsreiche Familienunternehmen, durchlebte 2024 eine dramatische Restrukturierung. Der Umsatz war binnen eines Jahrzehnts von 466 auf 234 Millionen Euro eingebrochen, die Getränkeproduktion wurde eingestellt, über 200 Beschäftigte über eine Transfergesellschaft abgewickelt. Westfleisch schloss 2024 seinen Standort in Paderborn vollständig und strich mehr als 400 Arbeitsplätze. Finke Möbel, Welle Möbel – beide insolvent, beide Zeugen einer Ära, die unwiderruflich zu Ende geht.

Selbst das Ausbesserungswerk der Deutschen Bahn, das rund 800 Menschen beschäftigt, steht 2025 massiv unter Druck. Im Zuge des Sanierungsprogramms der DB werden alle Werkstätten auf Wirtschaftlichkeit überprüft. Erste Sparmaßnahmen laufen bereits: keine neuen Ausbildungsplätze, Kurzarbeit, unsichere Perspektiven. Eine Schließung ist noch nicht beschlossen, aber das Damoklesschwert hängt sichtbar über dem Standort.

Die fiskalische Zeitbombe

Die wirtschaftlichen Verwerfungen bleiben nicht ohne Folgen für den städtischen Haushalt. Wenn Großunternehmen wie Diebold Nixdorf straucheln, Westfleisch schließt, Stute massiv schrumpft und das Ausbesserungswerk vor dem Aus steht, stellt sich zwangsläufig die Frage: Wie entwickelt sich das Gewerbesteueraufkommen? Die Abhängigkeit von wenigen großen Steuerzahlern wird zum fiskalischen Risiko. Bricht einer der tragenden Pfeiler weg, fehlen der Stadt nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch die finanziellen Mittel für Infrastruktur, Bildung und Soziales.

Die Kommunalpolitik mag die Risiken intern durchaus erkennen, doch in den offiziellen Haushaltsdokumenten bleiben die Prognosen auffallend zurückhaltend formuliert. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit der drohenden Erosion der Steuerbasis findet öffentlich kaum statt. Dabei wäre gerade diese Debatte überfällig: Wie kompensiert eine Stadt den Verlust ihrer industriellen Großstrukturen? Welche neuen Einnahmequellen können erschlossen werden, wenn die alten versiegen? Die Antworten bleiben aus.

Was bleibt?

Paderborn steht sinnbildlich für eine Entwicklung, die viele deutsche Industrieregionen erfasst hat: Der schleichende Verlust industrieller Kerne, die Erosion tradierter Strukturen, die Unfähigkeit, rechtzeitig auf Strukturwandel zu reagieren – wobei man fairerweise einräumen muss, dass den Gestaltungsmöglichkeiten  jeder Stadt und jeder Wirtschaftsförderung auch Grenzen gesetzt sind. Die Stadt verliert nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Wertschöpfung, Ausbildungskapazitäten, industrielles Know-how und – nicht zuletzt – ihre finanzielle Handlungsfähigkeit. Was zurückbleibt, sind leere Werkhallen, brachliegende Flächen und eine Statistik, die weiterhin Stabilität suggeriert.

Allerdings ist es schon beachtlich, wie die Stadt es bis jetzt geschafft hat, diese zum Teil herben Rückschläge, die mit dem Niedergang der Nixdorf Computer AG begannen, zu kompensieren. Das muss man anerkennen.

Die eigentliche Tragik liegt nicht in den einzelnen Insolvenzen oder Schließungen.

Sie liegt in der systematischen Selbsttäuschung, mit der Politik und Wirtschaftsförderung die Krise verwalten, statt ihr entgegenzuwirken. Solange offizielle Haushaltsdokumente die Risiken nur zurückhaltend formulieren, solange die Abhängigkeit von wenigen Großunternehmen als Diversität verkauft wird, solange Body-Leasing als Innovation gilt, wird sich nichts ändern.

Paderborn ist kein Einzelfall. Aber Paderborn ist ein Menetekel.

Von Rolevinck

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