Die Beziehungen zwischen Westfalen und dem Baltikum wurzeln tief in der mittelalterlichen Geschichte und reichen bis in das späte 12. und frühe 13. Jahrhundert zurück. In dieser Zeit der deutschen Ostsiedlung, auch „Aufseglung“ genannt, wanderten neben den militärischen Orden wie den Schwertbrüdern auch Siedler aus verschiedenen deutschen Regionen ins Baltikum aus. Unter ihnen befanden sich Menschen aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen und insbesondere auch aus Westfalen, die eine prägende Rolle bei der Christianisierung und der politischen sowie wirtschaftlichen Entwicklung der baltischen Gebiete Livland, Kurland und Estland spielten.
Die deutsche Oberschicht im Baltikum
Diese deutschen Einwanderer, zu denen auch viele Westfalen gehörten, bildeten über Jahrhunderte hinweg die führende Schicht in den baltischen Gebieten. Als Adlige und Bürger nahmen sie sowohl in den Städten als auch als Landadel eine dominierende Rolle ein und bewahrten ihre Privilegien meist bis weit ins 19. Jahrhundert, selbst unter wechselnden Herrschaftsverhältnissen des Deutschen Ordens, Polen-Litauens, Schwedens und schließlich Russlands. Ein Schlüsselereignis für diese Verbindung war die Gründung Rigas im Jahr 1201 durch den Bremer Domherrn Albert von Buxhöveden, die den deutschen Einfluss im Baltikum dauerhaft etablierte.
Der Deutsche Orden und die westfälische Verbindung
Um die Bedeutung der westfälisch-baltischen Verbindung zu verstehen, muss zunächst die zentrale Rolle des Deutschen Ordens im mittelalterlichen Mittel- und Osteuropa betrachtet werden. Der Orden entwickelte sich zu einer der mächtigsten geistlich-militärischen Organisationen seiner Zeit und prägte die Geschichte weiter Teile des östlichen Europas nachhaltig. Die Schlacht bei Tannenberg (Grünwald) 1410 markierte jedoch einen entscheidenden Wendepunkt: Die schwere Niederlage gegen das polnisch-litauische Heer schwächte die Militärmacht des Ordens erheblich und leitete seinen allmählichen Niedergang ein.
Die organisatorische Struktur des Ordens in Balleien verdeutlicht die enge Verbindung zwischen regionalen Adelskreisen und der Ordensverwaltung. Die Ballei Westfalen mit ihren wichtigen Zentren in Münster, Mühlheim und Dortmund spielte dabei eine herausragende Rolle. Prominente Landkomture wie Neveling von der Recke und Georg Levin von Nagel spiegelten den bedeutenden Einfluss westfälischer Ritter innerhalb der Ordenshierarchie wider. Bereits Hermann von Balk, der erste Landmeister in Preußen und als „erster Preuße“ bezeichnet, war maßgeblich für die Konsolidierung der Ordensmacht in der Region und den Beginn der deutschen Ostexpansion verantwortlich.
Westfälische Landmeister im Baltikum
Besonders bemerkenswert ist der außergewöhnlich hohe Anteil westfälischer Adliger unter den Landmeistern von Livland, was die starke Präsenz westfälischen Adels im Baltikum eindrucksvoll unterstreicht. Wolter von Plettenberg, um 1450 auf der Burg Meyerich im Herzogtum Westfalen geboren, verkörpert exemplarisch diese Verbindung. Als Landmeister von Livland seit 1494 führte er erfolgreiche militärische Kampagnen gegen russische Truppen und sicherte Livlands relative Selbständigkeit gegenüber Moskau. Seine Siege, wie in der Schlacht am Smolinasee 1502, festigten die Position des Deutschen Ordens nachhaltig. Obwohl selbst katholisch, tolerierte er den aufkommenden Protestantismus in den Städten und trug so zur friedlichen Einführung der Reformation bei. 1529 wurde er sogar zum Reichsfürsten erhoben.
Die Reihe westfälischer Landmeister setzte sich mit Persönlichkeiten wie Johann Freitag von Loringhofen und Johann Wilhelm von Fürstenberg fort, die alle die lange und prägende Rolle Westfalens in der Führung des Ordens im Baltikum verdeutlichen. Besonders bedeutsam ist Gotthard Kettler, der als letzter Landmeister von Livland eine Schlüsselrolle in der Geschichte des Baltikums spielte. Nach der Reformation säkularisierte er den Deutschen Orden in Livland und legte als erster Herzog von Kurland und Semgallen den Grundstein für das Herzogtum Kurland, womit er eine neue Ära in der baltischen Geschichte einleitete.
Diese Persönlichkeiten verbanden westfälische Adelskultur mit den politischen und militärischen Herausforderungen der Ostseeregion und trugen wesentlich zur militärischen Verteidigung, politischen Stabilisierung und kulturellen Entwicklung des Baltikums im Spätmittelalter bei.
Handel und wirtschaftliche Verflechtungen
Parallel zur adeligen Präsenz entwickelten sich intensive Handelsbeziehungen zwischen Westfalen und dem Baltikum. Bereits vor der eigentlichen Hansezeit, ab etwa dem 12. Jahrhundert, existierte ein umfangreicher Fernhandel zwischen Mitteleuropa und dem Baltikum. Westfälische Kaufleute aus Städten wie Dortmund, Soest und Münster beteiligten sich aktiv am Handel mit Edelmetallen, Pelzen, Wachs und Fertigprodukten, die über Lübeck und Gotland bis nach Nowgorod und darüber hinaus gelangten.
Ein wichtiger Meilenstein war der Handelsvertrag von 1229, den Kaufleute aus Riga, Gotland, Lübeck sowie westfälische Fernhändler in Smolensk schlossen. Dieser Vertrag belegt den strukturierten Handel über große Distanzen und die wirtschaftliche Bedeutung westfälischer Händler im Baltikum und in Russland. Die Hanse als mittelalterliches Handelsbündnis verband schließlich zahlreiche Städte des Ostseeraums und Mitteleuropas, wobei westfälische Städte eine wichtige Rolle spielten. Westfälische Kaufleute beteiligten sich an den Hansetagen und waren dauerhaft in den baltischen Handelszentren Riga und Reval präsent.
Kultureller Austausch und gesellschaftlicher Einfluss
Der kulturelle Austausch zwischen Westfalen und dem Baltikum manifestierte sich auf vielfältige Weise. Die deutsch-baltische Oberschicht, zu der viele Westfalen zählten, prägte Kultur und Sprache im Baltikum über Jahrhunderte. Als Träger der Reformation förderten sie Schrifttum, Bildung und Wissenschaft und trugen zur Entwicklung lokaler Volkssprachen in Verbindung mit der deutschen Kultur bei. Westfälische Siedler brachten ihre Kultur, Sprache, Rechtssysteme und adeligen Traditionen mit nach Livland und Estland, deren Einfluss teilweise bis in die frühe Neuzeit reichte.
Adelshäuser wie die Delwig und andere Familien waren über Generationen im Baltikum präsent und hielten kulturelle Verbindungen aufrecht. Sie spielten zentrale Rollen bei Verwaltung, Landbesitz und gesellschaftlichem Leben. Auch archäologische Funde, darunter Importwaren wie Bernstein und stilistisch ähnliche Keramiken, belegen bereits in vor- und frühgeschichtlicher Zeit intensive Kontakte zwischen dem Baltikum und Mitteleuropa.
Moderne Dokumentation und Nachwirkungen
Die umfassende Ausstellung „Westfalen und das Baltikum 1200–2000″ in der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne (2007) dokumentierte diese historische Beziehung und gab Einblick in die vielfältigen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen über Jahrhunderte. Marion Gräfin Dönhoff trug mit ihren historischen Spurensuchen „Auf den Spuren der Hanse im Baltikum“ weitere wichtige Erkenntnisse zu dieser Handelsvermittlung bei. Auch das Preußenmuseum in Minden bietet mit seinen Exponaten zur Geschichte des Deutschen Ordens einen hervorragenden Einblick in die historischen Zusammenhänge mit westfälischem Bezug und dokumentiert diese wichtigen Verbindungen anschaulich.
Ein modernes Symbol für die anhaltende Verbindung ist der Westfälische Lückenschluss auf dem Jakobspilgerweg im Jahr 2008, der seitdem eine spirituelle Verbindung von Westfalen über das Baltikum bis nach Spanien schafft – ein kultureller Brückenschlag, der historische Verbindungen in die Gegenwart trägt.
Die durch deutsche Einwanderung und Herrschaft geschaffene Kultur im Baltikum wurde im 20. Jahrhundert durch die Umsiedlung der Deutsch-Balten im Rahmen der nationalsozialistischen Politik „Heim ins Reich“ größtenteils beendet. Dennoch existiert das historische Erbe dieser jahrhundertelangen Verbindung weiterhin und zeigt, wie Westfalen über viele Jahrhunderte eine besonders enge Beziehung zum Baltikum unterhielt – geprägt von Adelsnetzwerken, Handelsverbindungen, kulturellem Austausch und spirituellen Pfaden.
Quellen:
Westfälische Ordensritter und Landmeister