Aus den rauchenden Schloten der Zechen erwuchs eine der innovativsten Chemielandschaften Deutschlands. Was einst als Nebenprodukt der Kohleförderung begann, entwickelte sich zu einem Hightech-Standort, der heute Weltmarktführer in der Spezialchemie beherbergt.


Das Jahr 1850 markierte einen Wendepunkt in der industriellen Geschichte des Ruhrgebiets. Während rund 300 Zechen täglich große Mengen schwarzer Kohle förderten und in den zahlreichen Kokereien zu Koks verarbeiteten, ahnte noch niemand, welche chemische Revolution sich aus den entstehenden Nebenprodukten entwickeln würde. Das Kokereigas, zunächst lediglich als Energiequelle im Produktionsprozess genutzt, sollte zum Ausgangspunkt einer der bedeutendsten Industrietransformationen der deutschen Geschichte werden.

Die Pioniere dieser Entwicklung erkannten früh das Potenzial der scheinbaren Abfallprodukte. Albert Hüssener gelang 1887 in Gelsenkirchen ein Durchbruch, als er Benzol durch Auswaschen des Koksgases gewann. Noch spektakulärer war Friedrich Bergius‘ Innovation von 1913: Sein patentiertes Verfahren zur Kohlehydrierung ermöglichte es, durch Verflüssigung von Steinkohle Benzin zu produzieren – eine Technologie, die Jahrzehnte später als „Coal-to-Liquid“ erneut Aufmerksamkeit erlangen sollte.

Der Reichtum an verschiedenen Kohlesorten ließ im Ruhrgebiet eine hochspezialisierte Kohlenwertstoffindustrie entstehen. Wie in einem perfekt orchestrierten Industriesymphonie entwickelten sich die Unternehmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette: Die Rütgerswerke in Castrop-Rauxel und Duisburg – heute als Rain Carbon weitergeführt – konzentrierten sich auf Teerprodukte, während die Hibernia Bergwerksgesellschaft in Gladbeck Phenole produzierte. Das ehemalige Hydrierwerk Scholven in Gelsenkirchen, heute Ruhr Oel GmbH, spezialisierte sich auf Benzin, Sachtleben in Duisburg auf Pigmente und die Grillo-Werke auf Zinkfarben – ein Unternehmen, das nach einem schweren Brand im September 2024 mit einem zweistelligen Millionenschaden kämpft, aber weiterhin aktiv ist.

Diese Spezialisierung war jedoch nur der Beginn einer noch größeren Transformation. Durch kontinuierliche Innovationen in der chemischen Verarbeitung erweiterte sich die Produktpalette stetig. 1928 entstand in Oberhausen ein Werk der Ruhrchemie AG, das zunächst Düngemittel, später Benzin, Katalysatoren und Polymere produzierte. Doch der eigentliche Durchbruch gelang 1938 mit dem Aufbau eines Buna-Werkes in Marl zur Herstellung von synthetischem Kautschuk.
Die Chemischen Werke Hüls in Marl verkörpern paradigmatisch diese Entwicklung von der Kohlechemie zur modernen Spezialchemie. Die günstige Lage am Wesel-Datteln-Kanal und die Nähe zu Kokereien und Hydrierwerken, die sowohl Lieferant als auch Abnehmer von Produkten waren, verschaffte dem Unternehmen entscheidende Standortvorteile. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich die Werke zum drittgrößten Chemiestandort in Deutschland.

Der entscheidende Paradigmenwechsel kam mit der Substitution von Kohle durch Erdöl. Diese technologische Revolution ermöglichte es, das Produktspektrum dramatisch zu erweitern: Tenside, Polyvinylchlorid, Lackrohstoffe, Polystyrol und Weichmacher – eine Produktvielfalt, die mit der ursprünglichen Kohlechemie undenkbar gewesen wäre.

Die Geschichte von Hüls illustriert dabei auch die komplexen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen dieser Transformation. Während der NS-Zeit als reine Produktionsstätte für kriegswichtigen Synthesekautschuk konzipiert, musste das Unternehmen in der Nachkriegszeit völlig neue Wege finden. Die Großaktionäre BASF, Bayer, Hoechst und Hibernia verfolgten dabei durchaus ambivalente Strategien – sie fürchteten sowohl die Konkurrenz durch einen zu erfolgreichen Partner als auch den Wettbewerbsvorteil der jeweils anderen Anteilseigner.

Besonders aufschlussreich ist der Wandel der Staatsbeziehungen. Während im „Dritten Reich“ staatliche Subventionen im Rahmen der Autarkiebestrebungen die Gründung ermöglicht hatten, verweigerte sich die Bundesregierung nach 1945 standhaft entsprechenden Forderungen. Die Manager mussten lernen, dass die Strategie, unternehmerische Risiken auf den Staat abzuwälzen, in der neuen politischen Ordnung nicht mehr funktionierte.

Diese Entwicklung markiert einen fundamentalen Wandel: Aus einer staatsabhängigen Rüstungsproduktion wurde eine marktorientierte, innovative Chemieindustrie. Das Ruhrgebiet vollzog damit eine Transformation, die weit über den Strukturwandel von der Kohle- zur Stahlindustrie hinausging. Es entstand eine diversifizierte, technologisch führende Chemielandschaft, die heute zu den innovativsten Europas zählt.

Neue Herausforderungen: Energiekrise und Standortnachteile

Doch die Erfolgsgeschichte der deutschen Chemieindustrie steht heute vor ihrer größten Bewährungsprobe seit dem Zweiten Weltkrieg. Die aktuelle Energiekrise hat mehrere Ursachen: Neben den durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgelösten Preissteigerungen verschärft die deutsche Energiepolitik die Situation dramatisch. Die Abschaltung der letzten Atomkraftwerke im April 2023 und die einseitige Fokussierung auf erneuerbare Energien haben zu strukturell höheren und volatileren Energiepreisen geführt. Dies trifft die energieintensive Chemieindustrie, die auf eine kontinuierliche und kalkulierbare Grundlastversorgung angewiesen ist, besonders hart. INEOS Phenol, der weltgrößte Produzent von Phenol und Aceton, kündigte aufgrund der „himmelhohen europäischen Energiekosten und Europas strafender CO2-Steuerpolitik“ die permanente Schließung ihres Standorts in Gladbeck an – ein dramatisches Ende für die ehemalige Hibernia-Tradition an diesem Standort. Im internationalen Vergleich muss die chemisch-pharmazeutische Industrie hier am Standort deutlich höhere Preise für Strom und Gas zahlen als anderer Wettbewerber.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Der Branchenverband VCI kündigte an, dass man nach einem eher düsteren 2024 auch für das kommende Jahr mit stagnierenden Aufträgen und Umsätzen rechne. Die Auftragslage ist wacklig, die Umsätze sinken, die Anlagenauslastung ist unterdurchschnittlich, und hohe Energie- und Rohstoffpreise gefährden die internationale Wettbewerbsfähigkeit.

Das Dilemma wird am Beispiel BASF, Europas größtem Chemiekonzern, besonders deutlich. Während in Ludwigshafen elf Produktionsanlagen geschlossen werden, darunter auch eine moderne TDI-Anlage für die Produktion von Schaumstoffen, investiert das Unternehmen Milliarden in China. 28 Prozent der für den Zeitraum 2025 bis 2028 geplanten weltweiten Investitionen fließen nach China, während der Verlust der deutschen Anlagen bei einer Milliarde Euro liegt.

Diese Entwicklung ist symptomatisch für eine Branche im Umbruch. Überbordende Bürokratie, hohe Energiepreise, Steuerbelastungen und Fachkräftemangel verschlechtern die Standortbedingungen kontinuierlich. Der neue CEO Markus Kamieth, der im April 2024 von Martin Brudermüller übernommen hat, sieht sich mit den gleichen strukturellen Herausforderungen konfrontiert: hohe Energiekosten und überbordende Regulierung in Europa bleiben die Hauptgründe für die strategische Neuausrichtung.

Die vielgepriesene „grüne Transformation“ erweist sich dabei zunehmend als schwer umsetzbar. Während grüner Wasserstoff als Heilsbringer für die Dekarbonisierung der Industrie gehandelt wurde, stehen die Unternehmen vor der ernüchternden Realität: Der Hochlauf der grünen Wasserstoffwirtschaft befindet sich noch in einem frühen Stadium und die Kosten bleiben prohibitiv hoch. Die großangelegten Subventionsprogramme können die fundamentalen Wettbewerbsnachteile kaum kompensieren, während gleichzeitig die internationale Konkurrenz mit deutlich günstigeren fossilen Energieträgern operiert.

Der Weg von den rauchenden Zechen zu den hightech-sterilen Laboratorien der heutigen Spezialchemie zeigt exemplarisch, wie aus industriellen Nebenprodukten ganze Wirtschaftszweige entstehen können. Doch die aktuellen Herausforderungen verdeutlichen auch, dass selbst jahrhundertealte Industrieregionen nicht vor strukturellen Umbrüchen gefeit sind. Die Frage ist nicht mehr, ob die deutsche Chemieindustrie eine weitere Transformation durchlaufen wird, sondern ob sie diese erneut erfolgreich gestalten kann – oder ob die nächste Generation chemischer Innovationen anderswo entstehen wird.

Von Rolevinck

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