Von mittelalterlichen Klosterchronisten bis zu international renommierten Wissenschaftlern der Bielefelder Schule – Westfalen hat über die Jahrhunderte hinweg eine bemerkenswerte Tradition der Geschichtsschreibung hervorgebracht, die weit über die regionalen Grenzen hinaus wirkte.
Die mittelalterlichen Grundlagen
Die westfälische Geschichtsschreibung nahm bereits im frühen Mittelalter ihren Anfang, als Widukind von Corvey mit seiner Sachsengeschichte den Grundstein für eine jahrhundertelange Tradition der historischen Dokumentation legte. Dieses Werk markierte nicht nur den Beginn der regionalen Geschichtsschreibung, sondern etablierte zugleich Standards für die systematische Aufzeichnung historischer Ereignisse.
In der Folgezeit entwickelte sich ein beeindruckendes Netzwerk von Geschichtsschreibern, die ihre Wirkung weit über Westfalen hinaus entfalteten. Heinrich von Herford etablierte sich als bedeutender Weltchronist des Mittelalters, während Gobelin Person, Dietrich von Niem und Nikolaus von Siegen die überregionale Ausstrahlung westfälischer Historiographie untermauerten. Eine besondere Rolle spielte dabei Reiner Reineccius, der sich der Geschichte des Altertums widmete und damit den Blick über die regionalen und zeitgenössischen Grenzen hinaus erweiterte.
Klösterliche Chronistik und Alltagsgeschichte
Besonders aufschlussreich für das Verständnis mittelalterlicher Lebensverhältnisse erweisen sich die Aufzeichnungen des Laienbruders Göbel Schickenberges aus dem Kloster Böddeken bei Paderborn. Seine Chroniken bieten Historikern heute wertvolle Einblicke in die sozialen und kulturellen Strukturen seiner Zeit und verdeutlichen die Bedeutung klösterlicher Zentren als Bewahrer und Vermittler historischen Wissens.
Internationale Ausstrahlung und Spezialisierung
Die westfälische Geschichtstradition beschränkte sich keineswegs auf die heimischen Gefilde. Leonard Offerhaus wirkte als bedeutender Historiker in den Niederlanden, während Gerhard Friedrich Müller als „Vater der sibirischen Geschichtsschreibung“ in die Annalen der Forschung einging. Diese internationale Dimension zeigt, wie westfälische Gelehrte ihre Expertise in verschiedenste geografische und thematische Bereiche trugen.
Wilhelm Lübke etablierte sich als einflussreicher Kunsthistoriker seiner Zeit und leistete mit seinem Werk über die westfälische Kunst des Mittelalters einen wichtigen Beitrag zur regionalen Kulturgeschichte. Gerhard Kleinsorgen schuf im 16. Jahrhundert mit seiner zehnbändigen Westfälischen Kirchengeschichte ein monumentales Werk, das die religiöse Entwicklung der Region systematisch dokumentierte.
Wissenschaftliche Exzellenz und Innovation
Die Verbindung zu den großen Namen der deutschen Geschichtswissenschaft wird durch Eugen Bormann exemplifiziert, der als renommierter Althistoriker bei Theodor Mommsen studierte und damit die westfälische Geschichtstradition mit der entstehenden modernen Geschichtswissenschaft verknüpfte. Gustav von Ewers ging noch einen Schritt weiter und begründete das Fach der Rechtsgeschichte in Russland, womit er die internationale Ausstrahlung westfälischer Gelehrsamkeit unterstrich.
Die Bielefelder Revolution
Wie keine andere Institution prägte die Bielefelder Schule die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten. Mit Reinhart Koselleck und Hans-Ulrich Wehler gingen von Westfalen entscheidende methodische und theoretische Impulse aus, die die internationale Geschichtsforschung nachhaltig beeinflussten. Diese Namen stehen für eine Erneuerung der Geschichtswissenschaft, die sozialwissenschaftliche Methoden integrierte und neue Perspektiven auf historische Prozesse eröffnete.
Regionale Kompetenz und überregionale Bedeutung
Die intensive Beschäftigung mit der westfälischen Geschichte selbst brachte eine beeindruckende Reihe von Forschern hervor: Johann Dietrich von Steinen, Hermann Rothert, Franz Darpe, Karl Féaux de Lacroix, Siegfried Kessemeier, Harm Klueting, Heinrich Rüthing, Friedrich Philippi, Alfred Wesselmann, Heinz Stoob, Wilfried Reininghaus, Ignaz Philipp Rosenmeyer, Josef Pelster, Franz Flaskamp und Paul Leidinger haben durch ihre Arbeiten ein differenziertes Bild der regionalen Entwicklung gezeichnet.
Spezialisierung und internationale Anerkennung
Die Vielfalt westfälischer Geschichtsforschung zeigt sich in der Bandbreite der Spezialisierungen: Josef Wiesehöfer erlangte durch seine Forschungen zum Alten Orient internationale Bekanntheit, während Rudolf Vierhaus aus Wanne als Nestor der deutschen Frühzeitforschung gilt. Klaus Tenfelde etablierte sich als Experte für die Geschichte des Ruhrgebiets und setzte als Herausgeber der Geschichte des deutschen Bergbaus wichtige Meilensteine.
Karl-Wilhelm Weeber machte sich als Althistoriker einen Namen durch seine populären und wissenschaftlich fundierten Darstellungen des antiken Alltagslebens, indem er akademische Exegese mit allgemeinverständlicher Vermittlung verband. Helmut Neuhaus profilierte sich als Frühneuzeit-Historiker und Experte für die Reichsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches, während Karl-Joachim Hölkeskamp als international anerkannter Althistoriker die politische Kultur und Erinnerungsgeschichte der römischen Republik erforscht.
Ute Frevert erhielt für ihre Forschungen zur Neueren und Neuesten Geschichte den prestigeträchtigen Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis, während Barbara Stollberg-Rilinger, die an der Universität Münster Geschichte der Frühen Neuzeit lehrt, mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt wurde. Diese Anerkennungen unterstreichen die anhaltende Exzellenz westfälischer Geschichtsforschung.
Wirtschaftsgeschichte und kontroverse Debatten
Im Bereich der Wirtschaftsgeschichte zählen Werner Plumpe, Werner Abelshauser, Harald Wixforth und Karl-Peter Ellerbrock zu den führenden deutschen Wissenschaftlern ihrer Disziplin. Gleichzeitig zeigt das Beispiel von Ernst Nolte, der 1986 mit seinen Thesen den Historikerstreit auslöste, dass westfälische Historiker auch kontroverse Debatten anstoßen und damit die wissenschaftliche Diskussion vorantreiben.
Die Zeitgeschichte wird durch Wolfgang Pyta repräsentiert, der durch seine Arbeiten zur Weimarer Republik und seine Biografien, etwa zu Hindenburg, bekannt wurde, sowie durch Reinhard Rürup, der als Spezialist für Nationalsozialismus, Judenverfolgung und Exilforschung die Berliner Geschichtswissenschaft nach 1945 prägte. Michael Epkenhans etablierte sich als Experte für Militär- und Marinegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
Tradition und Gegenwart
Die Kontinuität der westfälischen Geschichtstradition manifestiert sich auch in spezialisierten Bereichen: Christian Habicht aus Dortmund gilt als angesehener Althistoriker, während Arnold Angenendt, der bis zu seiner Emeritierung an der Universität Münster lehrte, sich als Kirchenhistoriker einen Namen machte.
Die Kirchengeschichte ist ein besonders starker Bereich westfälischer Forschung: Johann Karl Ludwig Gieseler prägte im 19. Jahrhundert mit seiner quellennahen „Kirchengeschichte in Lehrbüchern“ das Fach, während Franz Heinrich Reusch als Vertreter des Altkatholizismus und Gegner des Unfehlbarkeitsdogmas profilierte Positionen einnahm. Erwin Iserloh revolutionierte die Reformationsforschung, indem er die gängige Sicht auf Luthers Thesenanschlag kritisch hinterfragte, und Kurt Aland wurde international bedeutend für seine neutestamentliche Textforschung und als Mitinitiator des „Nestle-Aland“-Neuen Testaments. Friedhelm Jürgensmeier etablierte sich als Spezialist für mittelalterliches Klosterwesen und Ordensgeschichte.
Die Regionalgeschichte wird durch eine beeindruckende Riege von Forschern vertreten: Albert K. Hömberg wirkte im 20. Jahrhundert am Aufbau moderner westfälischer Historiografie mit, während Hermann Fley-Stangefoll, Erich Kittel, Carl Heinrich Nieberding und Ernst Friedrich Mooyer durch ihre Arbeiten zur westfälischen Lokal-, Territorial- und Verfassungsgeschichte das historische Selbstverständnis der Region prägten. Als „Klein- und großwestfälische Geschichtsbaumeister“ trugen sie durch Stadt-, Kirchen- und Landesgeschichtsschreibung entscheidend zur historischen Identität Westfalens bei.
Auch frühe Formen der Geschichtsschreibung finden ihre Fortsetzung: Poeta Saxo, der anonyme altsächsische Dichter des 9. Jahrhunderts und Schöpfer der „Annales de gestis Caroli Magni“, steht am Anfang einer Dichtungstradition, die über Johann Bocerus (Johann Bock), den Humanisten des 16. Jahrhunderts, bis zu Johann Renner reicht, dessen Chronik der Livländischen Kriegszeiten ein Beispiel frühneuzeitlicher Geschichtsschreibung darstellt.
Die interdisziplinäre Ausrichtung zeigt sich bei Forschern wie Robert Jütte, dem renommierten Medizin- und Sozialhistoriker, der durch seine Studien zu Armut, Gesundheit und Volksfrömmigkeit bekannt wurde, oder Hans-Joachim König, dem Lateinamerikahistoriker, der sich mit Kolonialzeit und indigenen Gesellschaften beschäftigt. Joseph Imorde bringt als Kunsthistoriker innovative Ansätze zur Bildgeschichte ein, während Rüdiger Klessmann sich auf niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts spezialisierte.
Norbert Kamp und Heinrich Finke prägten die mittelalterliche Kirchengeschichte und Konzilienforschung, während Nicolaus Schaten bereits im 17. Jahrhundert grundlegende Werke zur westfälischen Geschichte und Gelehrsamkeit verfasste. Ulrich Knefelkamp forscht zur spätmittelalterlichen Geschichte und kulturellen Überlieferung, und Josef Annegarn machte sich im 19. Jahrhundert durch seine populäre „Allgemeine Weltgeschichte“ für Schulen einen Namen.
Von Widukind von Corvey bis zur heutigen Bielefelder Schule spannt sich ein beeindruckender Bogen wissenschaftlicher Exzellenz, der Westfalen zu einem der bedeutendsten Zentren deutscher Geschichtsschreibung macht. Diese Tradition verbindet regionale Verwurzelung mit internationaler Ausstrahlung und zeigt, wie aus der systematischen Erforschung der eigenen Geschichte universelle Erkenntnisse erwachsen können.
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