Die Chemie stand lange Zeit im Schatten ihrer Schwestern der Medizin und der Pharmazie. Doch gerade aus dieser Verbindung heraus entwickelte sich eine eigenständige Wissenschaft, die von westfälischen Forschern maßgeblich geprägt wurde – von den ersten Fettsäure-Entdeckungen bis hin zu Nobelpreisen und industriellen Revolutionen.


Die Geschichte der Chemie als eigenständige Wissenschaft ist untrennbar mit der Entwicklung der Medizin und Pharmazie verbunden. Jahrhundertelang bewegten sich die Gelehrten in einem Grenzbereich zwischen Heilkunde und der Erforschung der Materie. Diese symbiotische Beziehung erwies sich als außerordentlich fruchtbar und brachte eine Reihe von Pionieren hervor, die nicht nur die Chemie, sondern auch unser modernes Leben nachhaltig prägten. Westfalen als Region spielte dabei eine bemerkenswerte Rolle und brachte eine Vielzahl bedeutender Chemiker hervor.

Die Anfänge: Mediziner als Chemie-Pioniere

Den Grundstein für diese Entwicklung legte Otto Tachenius, der 1610 in Herford geboren wurde. Als Mediziner und Pharmazeut widmete er sich der systematischen Erforschung chemischer Prozesse und gilt heute als einer der Pioniere der chemischen Wissenschaften. Seine Entdeckung der Fettsäure war ein Meilenstein, der weit über die medizinische Anwendung hinaus Bedeutung erlangen sollte.

Diese Tradition der medizinisch geprägten Chemie setzte sich mit Johann Conrad Barchusen fort, einem der ersten Vertreter des universitären Lehrfaches der Chemie. Parallel dazu dokumentierte Johann Schröder das gesammelte Wissen seiner Zeit im „Artzney-Schatz“, dem wichtigsten Arzneibuch des 17. Jahrhunderts – ein Werk, das die enge Verzahnung von Pharmazie und Chemie eindrucksvoll illustriert.

Der Durchbruch: Morphin und die moderne Schmerztherapie

Einen entscheidenden Wendepunkt markierte das Jahr 1804, als Friedrich Sertürner die Isolation von Morphin gelang. Diese bahnbrechende Leistung etablierte ihn als Pionier der modernen Schmerztherapie und demonstrierte eindrucksvoll das Potenzial der analytischen Chemie für die Medizin. Die Bedeutung seiner Arbeit wird bis heute durch den jährlich vergebenen Sertürner-Preis für Schmerzforschung gewürdigt – eine Auszeichnung, die von der nach ihm benannten Sertürner-Gesellschaft vergeben wird.

Parallel dazu erweiterte sich das Spektrum der Forschung kontinuierlich: Heinrich Ludwig Buff (1805–1878), ein Schüler von Justus Liebig, gilt als einer der Wegbereiter der physikalischen Chemie im 19. Jahrhundert. Karl Lohmann (1898–1978) gelang 1929 die Isolierung des Adenosintriphosphats (ATP), das später als zentrales Energiemolekül aller Zellen erkannt wurde – ein Durchbruch von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis des Lebens auf molekularer Ebene.

Diese biochemische Tradition führte Hans Ulrich Bergmeyer (1920–1999) aus Bielefeld fort, der als internationaler Experte auf dem Gebiet der Enzymologie die moderne klinische Diagnostik revolutionierte. Bei Boehringer Mannheim entwickelte er ab 1954 grundlegende Methoden für die enzymatische Analyse und schuf mit seinen Test-Kombinationen – Reagenzien mit Anleitungen – die Grundlage für die standardisierte Labordiagnostik. Seine Innovationen waren entscheidend für den weltweiten Erfolg von Boehringer Mannheim als führendem Unternehmen der Diagnostikbranche. Sein Standardwerk „Methoden der enzymatischen Analyse“ dient bis heute als Referenz in Laboren weltweit und machte diagnostische Verfahren für medizinische, industrielle und Forschungszwecke zugänglich.

Industrielle Revolution und technische Innovationen

Die chemische Forschung beschränkte sich jedoch nicht auf medizinische Anwendungen. Otto Schott revolutionierte als Chemiker und Glastechniker die Glasindustrie und begründete damit das Fundament der heute weltbekannten SCHOTT-Glaswerke. Seine Innovationen zeigten, wie chemisches Verständnis direkt in industrielle Anwendungen übertragen werden konnte.

Ähnlich vielseitig war Theodor Fleitmann, der als Privatassistent von Justus Liebig wertvolle Erfahrungen sammelte. Seine praktischen Innovationen reichten von der Herstellung der ersten Nickelmünze des Deutschen Reiches bis zur Erfindung des Plattierungsverfahrens – ein eindrucksvolles Beispiel für die Bandbreite chemischer Anwendungen.

Westfälische Pionierleistungen bis zur Moderne

Die Entwicklungen mündeten in der Begründung eines völlig neuen Wissenschaftszweigs: Bereits Joseph König (1843–1930) legte als westfälischer Pionier der Lebensmittelchemie wichtige Grundsteine für die systematische Untersuchung von Nahrungsmitteln in Deutschland. Franz-Josef König baute auf dieser Tradition auf und etablierte die Lebensmittelchemie als eigenständige Disziplin, wodurch die wissenschaftliche Grundlage für die moderne Lebensmittelindustrie geschaffen wurde.

Die Tradition der westfälischen Nobelpreisträger in der Chemie setzte sich fort: 1967 erhielt Manfred Eigen die Auszeichnung für seine Forschungen zur Geschwindigkeitsmessung schneller chemischer Reaktionen. Fünfzig Jahre später, 2017, wurde Joachim Frank aus Siegen für die Entwicklung der Kryo-Elektronenmikroskopie geehrt – ein Verfahren, das die Darstellung von Biomolekülen in hoher Auflösung ermöglicht und die moderne Strukturbiologie revolutionierte.

Würdigung und Ausblick

Die Bedeutung dieser westfälischen Chemie-Tradition wird auch heute noch gewürdigt: Die Universitätsgesellschaft Münster verleiht alle zwei Jahre den Ernst-Hellmuth-Vits-Preis, eine Auszeichnung, die bereits an zahlreiche namhafte Chemiker vergeben ist und die Kontinuität dieser wissenschaftlichen Exzellenz unterstreicht.

Von Otto Tachenius‘ ersten Schritten in der Fettsäureforschung bis zu Joachim Franks Nobelpreis für die Kryo-Elektronenmikroskopie spannt sich ein Bogen von mehr als 400 Jahren westfälischer Chemiegeschichte. Diese Entwicklung zeigt exemplarisch, wie aus der ursprünglichen Verbindung zur Medizin eine eigenständige, hochwirksame Wissenschaft entstehen konnte, deren Auswirkungen weit über das Labor hinaus unser tägliches Leben prägen.

Heute setzt sich diese Tradition fort: Die westfälische Chemie steht weiterhin an der Spitze der internationalen Forschung. Die Tradition lebt fort – in den Forschungseinrichtungen der Region, in der Industrie und in den Auszeichnungen, die auch heute noch herausragende Leistungen auf diesem Gebiet würdigen.

Von Rolevinck

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