Eine Stadt mit 65.000 Einwohnern, die Diplomaten des Westfälischen Friedens, Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Broadway-Komponisten und Quantenphysiker hervorbrachte? Herford in Westfalen beweist, dass Größe nicht in Quadratkilometern gemessen wird. Ein faszinierender Blick auf eine der erstaunlichsten Geburtsstätten deutscher und internationaler Geistesgeschichte.
Es gibt Städte, die durch ihre Größe beeindrucken, und es gibt Städte, die durch ihre Bedeutung verblüffen. Herford gehört zur zweiten Kategorie. Wer die Liste der hier geborenen Persönlichkeiten betrachtet, reibt sich verwundert die Augen: Kann eine einzige westfälische Stadt tatsächlich über vier Jahrhunderte hinweg eine solche Konzentration außergewöhnlicher Geister hervorgebracht haben?
Der Frieden beginnt in Herford
Die Geschichte beginnt allerdings noch früher: Heinrich von Herford (um 1300-1370), ein gelehrter Dominikaner, Chronist, Historiker und Theologe, schuf mit seinem „Chronicon“, einer materialreichen Weltgeschichte in sechs Zeitaltern, eines der bedeutendsten historiografischen Werke des Mittelalters. Als einer der ersten Geschichtsschreiber seiner Zeit legte er systematisch die Grundlagen der historischen Forschung in Deutschland.
Drei Jahrhunderte später, 1611, wurde Conrad Lonicer geboren, dessen Geburt in Herford den Auftakt einer bemerkenswerten Tradition darstellte. Als Jurist und Gesandter wurde Lonicer zu einer Schlüsselfigur bei den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden von 1648. In den diplomatischen Räumen von Osnabrück formte dieser Herforder mit seiner juristischen Brillanz eine neue europäische Ordnung mit – ein Friedenswerk, das bis heute als Grundlage des modernen Völkerrechts gilt.
Dass eine Stadt wie Herford bereits im 17. Jahrhundert Diplomaten von europäischem Rang hervorbrachte, ist kein Zufall. Die Hansestadt war schon damals ein Ort des Handels und des geistigen Austauschs, ein Schmelztiegel verschiedener Einflüsse, der offene und weltgewandte Persönlichkeiten formte.
Eine Wiege der deutschen Demokratie
Diese Tradition politischer Gestaltungskraft erreichte im 19. und 20. Jahrhundert neue Höhepunkte. Carl Severing, 1875 in Herford geboren, wurde zu einem der wichtigsten Architekten der deutschen Demokratie. Als SPD-Politiker und Innenminister sowohl Preußens als auch des Reiches kämpfte er unermüdlich für Bürgerrechte und die Stabilisierung der Weimarer Republik. Severing verkörperte jenen aufrechten, demokratischen Geist, der Herford auszeichnet.
Noch bemerkenswerter ist Hermann Höpker-Aschoff, 1883 in Herford zur Welt gekommen. Als erster Präsident des Bundesverfassungsgerichts von 1951 bis 1954 prägte er die Rechtsordnung der jungen Bundesrepublik maßgeblich mit. Und als wäre dies nicht genug politischer Bedeutung für eine Stadt: Am 22. Januar 1946 wurde in Herford Konrad Adenauer zum ersten Vorsitzenden der CDU in der britischen Besatzungszone gewählt – ein historischer Moment, der den Grundstein für seine spätere Kanzlerschaft legte. Dass sowohl die erste deutsche Demokratie als auch die zweite, erfolgreichere Republik von Herfordern mitgestaltet wurden und die wichtigste Nachkriegspartei hier ihren ersten Vorsitzenden wählte, ist mehr als ein statistischer Zufall – es spricht für eine besondere politische Kultur dieser Stadt.
Pioniere der Erkenntnis
Doch Herford brachte nicht nur politische Visionäre hervor, sondern auch wissenschaftliche Revolutionäre. Otto Tachenius, 1610 geboren, entdeckte die Fettsäure und legte damit einen Grundstein für die moderne Biochemie. Drei Jahrhunderte später revolutionierte Bodo von Borries, Jahrgang 1905, als Miterfinder des Elektronenmikroskops unsere Sicht auf die mikroskopische Welt – seine Arbeiten wurden zur Grundlage der modernen Mikroskopie.
Die Vielfalt der Disziplinen ist atemberaubend: Heinrich Klausing (1675) war als Universalgelehrter in Theologie, Mathematik und Astronomie tätig. Gerhard Friedrich Müller (1705) wurde zum Pionier der Sibirienforschung und war an der ersten russischen Kamtschatka-Expedition beteiligt. Hermann Berghaus (1828) wurde zum Pionier der modernen Kartografie. Erich Gutenberg (1897) begründete die moderne Betriebswirtschaftslehre in Deutschland. Reinhard Maack (1892) entdeckte als Tropenforscher die berühmte „Weiße Dame“ im namibischen Brandbergmassiv. Wilhelm Normann revolutionierte die Lebensmittelindustrie durch die Erfindung der Fetthärtung – ein Verfahren, das bis heute in der Margarineherstellung unverzichtbar ist. Jörg Wrachtrup (1961) leistet heute wegweisende Beiträge zur Quantenphysik.
Baumeister des Barock und Meister der Illusion
Die kulturelle Vielfalt Herfords ist atemberaubend. Matthäus Daniel Pöppelmann, 1662 in Herford geboren, wurde zum bedeutendsten Baumeister des sächsischen Barock. Als Architekt Augusts des Starken schuf er Meisterwerke wie den Dresdner Zwinger (1711-1728), das Schloss Pillnitz und das Japanische Palais – Bauwerke, die bis heute zu den Höhepunkten europäischer Architektur zählen.
Johann Jacob Pagendarm (1647) prägte als Kirchenmusiker den protestantischen Musikstil des Barock. Gustave Adolph Kerker (1857) eroberte nach seiner Auswanderung den Broadway und wurde zu einem der Pioniere des amerikanischen Musicals. Marian Gold, geboren 1954 als Hartwig Schierbaum, machte mit Alphaville und dem Welthit „Forever Young“ Herforder Kreativität zu einem globalen Phänomen.
Karl Ludwig Costenoble (1769) etablierte sich als bedeutender Schauspieler und Theaterreformator, der das deutsche Theater nachhaltig prägte. In unserer Zeit setzen die Ehrlich Brothers – Andreas (* 1978) und Chris (* 1982), beide in Herford geboren – diese Tradition der Unterhaltungskunst fort. Als erfolgreichstes Zauberkünstler-Duo Deutschlands füllen sie die größten Arenen und bringen Millionen von Menschen mit ihren spektakulären Illusionen zum Staunen.
Das Rätsel der kleinen Großstadt
Was macht Herford zu diesem bemerkenswerten Inkubator außergewöhnlicher Persönlichkeiten? Die Antwort liegt möglicherweise in einer besonderen Mischung aus Eigenschaften: Herford war seit dem Mittelalter eine Handelsstadt, geprägt von wirtschaftlichem Austausch und kultureller Offenheit. Die Stadt war protestantisch geprägt, was Bildung und individuelles Denken förderte. Sie lag an wichtigen Handelswegen, war aber klein genug, um Gemeinschaftsgefühl und persönliche Förderung zu ermöglichen.
Vielleicht ist es gerade diese Kombination – Weltoffenheit und Bodenständigkeit, Tradition und Innovation, Gemeinschaftssinn und Individualität – die den besonderen „Herforder Geist“ ausmacht. Eine Stadt, die groß genug ist, um Horizonte zu weiten, aber klein genug, um jedem Talent Raum zur Entfaltung zu geben.
Ein lebendiges Erbe
Von Conrad Lonicer über Pöppelmann bis zu den heute lebenden Wissenschaftlern und Künstlern zeigt Herford eine erstaunliche Kontinuität geistiger Produktivität. Thomas Carell (1966) erforscht heute fundamentale DNA-Mechanismen, Claudia Wiesemann (1958) prägt die Medizinethik, Wolfgang Lück (1957) ist international anerkannter Mathematiker. Und die Ehrlich Brothers beweisen, dass Herforder Kreativität auch im 21. Jahrhundert Millionen von Menschen in ganz Europa verzaubert.
Diese beeindruckende Bilanz ist mehr als eine Ansammlung von Zufällen. Sie offenbart, dass wahre Größe nicht in Einwohnerzahlen oder Wirtschaftskraft gemessen wird, sondern in der Fähigkeit einer Gemeinschaft, menschliche Potentiale zu entfalten. Herford beweist, dass eine Stadt von 65.000 Menschen der Welt mehr geben kann als manche Millionenmetropole.
In einer Zeit, in der oft über den Bedeutungsverlust kleinerer Städte geklagt wird, ist Herford ein leuchtendes Gegenbeispiel: Eine Stadt, die beweist, dass Exzellenz überall entstehen kann, wo Menschen ermutigt werden zu denken, zu träumen und zu gestalten. Das wahre Wunder von Herford liegt nicht in der Vergangenheit – es ereignet sich täglich neu in den Köpfen und Herzen seiner Bewohner.