Gütersloh verliert vier Plätze in irgendeinem Standort-Ranking – während die gesamte exportorientierte Wirtschaft der Region unter Druck gerät. Miele baut ab, Bertelsmann verkommt zum Dienstleister, Claas kämpft mit der globalen Agrarkrise, Beckhoff mit dem Maschinenbaueinbruch, Nobilia mit dem Baudesaster, Premium Food mit Überkapazitäten. Die „Neue Westfälische“ berichtet über bedeutungslose Zahlenspiele, statt die Strukturkrise vor der eigenen Haustür zu analysieren. Ein Lehrstück über journalistisches Totalversagen.
Es gibt Momente, in denen die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Realität so grotesk wird, dass sie eine eigene analytische Qualität gewinnt. Die „Neue Westfälische“ liefert einen solchen Moment, wenn sie pflichtschuldig meldet, Gütersloh sei im Standort-Ranking irgendeiner B2B-Medienplattform um vier Plätze abgerutscht[1]Gütersloh ruscht im Deutschland-Ranking ab: Standort für Unternehmen weniger attraktiv – während keine hundert Meter von der Redaktion entfernt die wirtschaftliche Substanz der gesamten Region erodiert. Nicht nur bei den prominenten Namen wie Miele oder Bertelsmann in Gütersloh. Sondern kreisweit: bei Claas in Harsewinkel, bei Beckhoff in Verl, bei Nobilia in Verl, bei Premium Food, im Maschinenbau, in der Autozulieferung, in der Metallverarbeitung. Bei allen Betrieben, die vom Export leben – und das sind im Kreis Gütersloh praktisch alle, die wirtschaftlich etwas bedeuten.
Man könnte es Realitätsverweigerung nennen. Präziser wäre: journalistische Bankrotterklärung. Denn was sich hier offenbart, ist nicht nur die Unfähigkeit einer Lokalredaktion, zwischen substanzieller Information und PR zu unterscheiden. Es ist die grundsätzliche Unfähigkeit, die eigentliche Story zu erkennen, die sich direkt vor den Augen abspielt. Der Kreis Gütersloh steht exemplarisch für die Strukturkrise, in der sich Deutschland befindet – eine Krise, die alle Rankings zur Makulatur werden lässt, weil sie die Koordinaten der Wirtschaft selbst verschiebt. Aber diese Krise zu analysieren würde Kompetenz, Recherche und analytisches Vermögen erfordern. Also berichtet man über Platzierungen.
Nehmen wir Miele in Gütersloh. Der Premiumhersteller für Haushaltsgeräte, seit Generationen Symbol für deutsche Ingenieurskunst, steckt in der Krise. Stagnierende Nachfrage in Europa, verschärfter Wettbewerb aus Asien, Kostendruck durch Energiepreise, strukturelle Überforderung durch Digitalisierung. Was früher als Stärke galt – hochpreisige Positionierung, langlebige Produkte – wird zum Problem in einem Markt, der von Preiswettbewerb dominiert wird. Miele reagiert wie der deutsche Mittelstand reagiert: mit Verzögerung, mit Stellenabbau, mit der Hoffnung, dass irgendwie alles wieder wird wie früher. Es wird nicht. Die Probleme nehmen täglich zu.
Oder Bertelsmann. Der Konzern hat sich über die Jahre zu einer Art Arvato-Holding transformiert – ein Dienstleistungskonglomerat, das Call-Center betreibt, Logistik abwickelt, IT-Services anbietet. Abstieg von der inhaltlichen Wertschöpfung zur reinen Abwicklung. Und jetzt kommt die generative KI. Amazon automatisiert, Call-Center werden durch Sprachassistenten ersetzt, Logistik durch Algorithmen optimiert. Was bleibt für Arvato? Die Hoffnung, dass die Disruption langsamer kommt, als sie kommt.
Oder Claas in Harsewinkel. Hier wird die Groteske besonders deutlich. Einer der weltweit führenden Hersteller von Landmaschinen, ein Familienunternehmen, das zum Global Player aufgestiegen ist – Mähdrescher, Traktoren, Feldhäcksler, made in Ostwestfalen, exportiert in die ganze Welt. Der Stolz der Region. Exakt die Art von Unternehmen, die als Paradebeispiel für deutschen Mittelstandserfolg durch alle Sonntagsreden geistert. Technologisch führend, solide geführt, tief in der Region verwurzelt, trotzdem global wettbewerbsfähig. Das Musterbeispiel dessen, was funktionieren sollte.
Und genau deshalb jetzt unter massivem Druck. Die Landmaschinenindustrie steckt weltweit in einer fundamentalen Krise, deren Dimensionen gerade erst sichtbar werden. Die globale Landwirtschaft kämpft mit einer toxischen Mischung aus Faktoren: Hohe Zinsen machen Investitionen in teure Maschinen unrentabel – ein moderner Mähdrescher kostet eine halbe Million Euro, finanziert wird über Kredite, die bei aktuellen Zinssätzen nicht mehr darstellbar sind. Niedrige Erzeugerpreise bei gleichzeitig steigenden Produktionskosten lassen den Landwirten kein Geld für Neuinvestitionen. Die Betriebe wirtschaften auf Kante, verschieben Anschaffungen, reparieren alte Maschinen statt neue zu kaufen.
Dazu kommt der verschärfte globale Wettbewerb. Chinesische Hersteller drängen mit aggressiver Preispolitik auf den Weltmarkt, technologisch inzwischen durchaus konkurrenzfähig, aber zu Preisen, mit denen deutsche Hersteller nicht mithalten können. Und während Claas in Harsewinkel noch über Kurzarbeit diskutiert, bauen die Chinesen ihre Kapazitäten aus. Die Konsolidierung der Branche verschärft den Druck zusätzlich – große Agrarkonzerne verlangen Konditionen, die den Mittelstand in die Zange nehmen.
Das Ergebnis: leere Auftragsbücher, Überkapazitäten, Kurzarbeit. Claas ist nicht irgendein Betrieb in Harsewinkel. Claas ist der größte Arbeitgeber der Stadt, Tausende Beschäftigte direkt, Tausende weitere bei Zulieferern im gesamten Kreis. Wenn Claas hustet, bekommt Harsewinkel eine Lungenentzündung. Wenn Claas in die Krise gerät, gerät die gesamte regionale Wirtschaftsstruktur unter Druck. Aber davon findet sich in der „Neuen Westfälischen“ nichts. Kein Wort zur Landmaschinenkrise.
Dabei wäre die Geschichte direkt vor der Tür. Ein Familienunternehmen, das den deutschen Export perfektioniert hat, das alle Ratschläge befolgt hat – Innovation, Qualität, Internationalisierung –, das technologisch an der Spitze steht, das umsichtig geführt wird. Und das trotzdem in die Krise gerät, weil die globalen Rahmenbedingungen sich gegen deutsche Produktion verschieben. Das ist keine Geschichte über Managementfehler – jedenfalls nicht nur. Das ist eine Geschichte über strukturelle Verwerfungen, die selbst die Besten treffen. Das wäre Journalismus. Aber den leistet die NW nicht.
Nehmen wir Beckhoff in Verl. Der Hidden Champion der Automatisierungstechnik, Pionier der PC-basierten Steuerungstechnik, Zulieferer für Industrie 4.0 weltweit. Exakt die Art von Unternehmen, von der Deutschland immer behauptet hat, sie sei seine Zukunft. Hochspezialisiert, technologisch führend, exportorientiert. Und exakt deshalb jetzt unter Druck: Der Maschinenbau, der wichtigste Abnehmer, kämpft mit wegbrechenden Aufträgen aus China. Die Automobilindustrie, der zweite große Kunde, steckt in der Strukturkrise. Wenn die Abnehmer nicht mehr investieren, bricht auch für den Zulieferer das Geschäft weg.
Oder Nobilia, ebenfalls Verl. Europas größter Küchenhersteller, ein Paradebeispiel für mittelständische Effizienz und Exportstärke. Produziert für den europäischen Markt, hängt damit direkt am Bausektor. Und der ist kollabiert. Hohe Zinsen, explodierende Baukosten, schrumpfende Nachfrage – die Auftragsbücher leeren sich. Was nützt industrielle Effizienz, wenn niemand mehr Küchen kauft? Nobilia steht für eine ganze Industrie, die jahrzehntelang auf Wachstum gebaut hat und nun erleben muss, wie die Nachfrage strukturell einbricht.
Premium Food, die Lebensmittelindustrie – auch hier dasselbe Muster. Überkapazitäten, Preisdruck, verschärfter Wettbewerb. Die Fleischverarbeitung, einst Rückgrat der ostwestfälischen Wirtschaft, kämpft mit schrumpfenden Margen und gesellschaftlicher Kritik. Export in EU-Märkte wird schwieriger, Energiekosten fressen die Gewinne. Auch hier: keine Perspektive, sondern Krisenverwaltung.
Der Kreis Gütersloh – Gütersloh, Verl, Rheda-Wiedenbrück, Harsewinkel, Rietberg – ist keine Ausnahme. Er ist Ostwestfalen. Er ist Deutschland. Eine Wirtschaftsstruktur, die auf einem einfachen Modell beruhte: exzellente Ingenieursleistung, hochwertige Produkte, verlässliche Lieferketten, starke Märkte in Europa, China und den USA. Dieses Modell bricht zusammen. Nicht nur wegen strategischer Fehlentscheidungen, sondern auch wegen fundamentaler Verschiebungen: explodierende Energiekosten, die deutsche Produktion unrentabel machen. Geopolitische Spannungen, die den China-Export gefährden. Technologische Disruption durch Digitalisierung und KI, die alte Geschäftsmodelle obsolet macht. Bürokratie und Regulierung, die Innovation ersticken. Infrastruktur, die verfällt statt sich zu modernisieren.
Die exportorientierten Betriebe im Kreis Gütersloh – vom Hidden Champion bis zum Zulieferer, vom Landmaschinenhersteller bis zum Küchenproduzenten, von der Automatisierungstechnik bis zur Lebensmittelindustrie – spüren das alles gleichzeitig. Die Aufträge werden weniger, die Margen schrumpfen, die Unsicherheit wächst. Manche reagieren mit Kurzarbeit, andere mit Stellenabbau, wieder andere mit Verlagerung der Produktion ins Ausland. Was das für den Kreis bedeutet, liegt auf der Hand: sinkende Kaufkraft, rückläufige Steuereinnahmen, schrumpfende Perspektiven für junge Menschen. Es ist der Beginn einer Abwärtsspirale, wie man sie aus anderen Industrieregionen kennt – dem Ruhrgebiet, Teilen Sachsens, strukturschwachen Regionen im Osten.
Aber in der „Neuen Westfälischen“ findet sich dazu keine vertiefte Analyse. Keine Reportage aus den Betrieben. Keine Gespräche mit der Geschäftsführung bei Claas über die Landmaschinenkrise, mit Betriebsräten bei Nobilia über den Baueinbruch, mit Entwicklungsingenieuren bei Beckhoff über wegbrechende Aufträge, mit Mitarbeitern bei Miele über den täglichen Stellenabbau. Keine Einordnung in den Kontext der deutschen Deindustrialisierung. Keine Untersuchung, was es bedeutet, wenn eine regionale Wirtschaft, die seit Generationen vom Export lebt, plötzlich ohne funktionierende Exportmärkte dasteht. Stattdessen: Ranking-Platz 55, vier Plätze verloren, Durchschnittsnote 2,94.
Das ist die eigentliche Geschichte des Kreises Gütersloh: eine Region, deren gesamte wirtschaftliche Grundlage unter strukturellem Druck steht. Nicht nur zwei prominente Unternehmen. Sondern das komplette Ökosystem aus Mittelständlern, Zulieferern, Dienstleistern über den gesamten Kreis verteilt – von Verl über Rheda-Wiedenbrück bis Harsewinkel. Claas, Beckhoff, Nobilia – das sind keine Randerscheinungen, das ist der Kern der ostwestfälischen Wirtschaft. Familienunternehmen, die zu Weltmarktführern oder europäischen Champions geworden sind, indem sie deutschen Export perfektioniert haben. Und die nun erleben müssen, wie genau dieses Erfolgsmodell zum Problem wird. Die Landmaschinenindustrie, der Maschinenbau, die Küchenmöbelindustrie – Branchen, in denen Deutschland über Jahrzehnte dominierte, geraten gleichzeitig unter Druck.
Diese Entwicklung hat nichts mit Ranking-Plätzen zu tun. Sie hat mit fundamentalen Verschiebungen im globalen Wettbewerb zu tun, mit technologischem Wandel, mit politischen Versäumnissen auf nationaler Ebene. Gütersloh ist nicht auf Platz 55 abgerutscht, weil irgendein B2B-Medienunternehmen das so berechnet hat. Die Region kämpft mit denselben Problemen wie der Rest Deutschlands: einer Wirtschaftsstruktur, die in einer Welt funktionierte, die es nicht mehr gibt.
Aber diese Zusammenhänge zu erkennen, würde voraussetzen, dass Redakteure über analytische Kompetenz verfügen. Dass sie in der Lage sind, volkswirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, Branchendynamiken zu bewerten, strukturelle Krisen einzuordnen. Die „Neue Westfälische“ demonstriert eindrucksvoll, dass diese Kompetenz nicht vorhanden ist. Man kann es den einzelnen Redakteuren kaum vorwerfen – sie sind Produkt eines Systems, das Journalismus als Content-Produktion definiert hat, nicht als analytische Durchdringung von Wirklichkeit. Man studiert nicht mehr Ökonomie oder Soziologie, sondern irgendwas mit Medien. Man lernt nicht mehr zu analysieren, sondern zu texten. Das Ergebnis ist ein Journalismus, der Pressemitteilungen verarbeitet, aber nicht versteht.
Die eigentliche Pointe ist dabei, dass dieser PR-Journalismus mittlerweile von jeder generativen KI besser geleistet werden könnte. Eine KI kann Pressemitteilungen zusammenfassen, Zitate einbauen, eine Überschrift formulieren. Sie kann die üblichen Phrasen generieren – „Standortfaktor“, „Wettbewerbsfähigkeit“, „Herausforderung“ – die den Lokaljournalismus prägen. Was sie nicht kann, ist echte Analyse. Aber die leistet die „Neue Westfälische“ ja auch nicht. Der Unterschied zwischen dem aktuellen Artikel und einem KI-generierten Text liegt nicht in der analytischen Tiefe, sondern allenfalls in den Tippfehlern.
Man könnte argumentieren, dass eine Lokalzeitung nicht den Anspruch haben muss, große wirtschaftspolitische Zusammenhänge zu erklären. Aber genau das ist der Punkt: Die Strukturkrise ist nicht abstrakt, sie ist lokal. Sie findet im Kreis Gütersloh statt, bei Miele, bei Bertelsmann, bei Claas in Harsewinkel, bei Beckhoff in Verl, bei Nobilia in Verl, beim Maschinenbauer im Gewerbegebiet, beim Autozulieferer, bei den Mitarbeitern überall, die um ihre Jobs fürchten. Das wäre die Geschichte, die eine Lokalzeitung erzählen sollte und könnte. Die Unternehmen sind alle da, die Betroffenen leben in der Region, die Zusammenhänge sind recherchierbar. Die Landmaschinenkrise ist kein abstraktes globales Phänomen – sie findet in Harsewinkel statt, bei Claas, dem größten Arbeitgeber der Stadt. Stattdessen berichtet man über Rankings, die keinerlei Erklärungswert haben, weil sie die realen Dynamiken ignorieren.
Das Ranking suggeriert, dass es um Platzierungen geht, um Image, um Bewertungen. Während in Wahrheit die Frage lautet: Wie überlebt eine regionale Wirtschaft, wenn ihr Geschäftsmodell – der Export – unter fundamentalem Druck steht? Was passiert, wenn Claas in Harsewinkel in Kurzarbeit geht oder Stellen abbaut? Wenn Miele weiter schrumpft, Bertelsmann irrelevant wird, Beckhoff keine Aufträge mehr aus dem Maschinenbau bekommt, Nobilia mit dem Bausektor kollabiert, die Fleischverarbeitung an Überkapazitäten zugrunde geht? Was wird aus einem Kreis, dessen gesamte wirtschaftliche Basis wegbricht – nicht nur in einer Stadt, sondern flächendeckend von Verl über Harsewinkel bis Rheda-Wiedenbrück? Das sind die Fragen, die gestellt werden müssten. Aber dafür bräuchte es Journalisten, die mehr tun als Pressemitteilungen weiterzureichen.
Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer Strukturkrise, deren Ausmaß erst allmählich sichtbar wird. Energiepreise, die jede industrielle Produktion unter Druck setzen. Bürokratie, die Innovation erstickt. Eine Digitalisierung, die verschlafen wurde. Eine geopolitische Lage, die alte Geschäftsmodelle zerstört. Und im Kreis Gütersloh, exemplarisch für Deutschland, eine Wirtschaft, die jahrzehntelang vom Export gelebt hat und nun erleben muss, wie diese Basis zerbröselt – nicht punktuell, sondern in der gesamten Breite, von der Landmaschinenindustrie über die Automatisierungstechnik und den Küchenbau bis zur Lebensmittelindustrie. In diesem Kontext sind Standort-Rankings nicht nur bedeutungslos, sie sind Makulatur. Sie messen Variablen, die in einem statischen System irgendwie relevant sein mögen, aber nichts aussagen, wenn das System selbst kollabiert.
Der Kreis Gütersloh ist ein Symptom. Die „Neue Westfälische“ ist ein Symptom. Das Ranking ist ein Symptom. Zusammen ergeben sie ein Bild vom Zustand des deutschen Lokaljournalismus: unfähig zur Analyse, abhängig von externen Inhalten, ersetzbar durch Algorithmen. Während die Titanic sinkt, zählt man die Deckstühle. Und berichtet gewissenhaft über ihre vermeintliche neue Anordnung.
References
