Henriette Davidis schrieb nicht nur Kochbücher – sie entwarf ein Bildungsprogramm für Frauen, das die deutsche Gesellschaft nachhaltiger prägte als manches Universitätscurriculum ihrer Zeit.


Wer heute ein Kochbuch aufschlägt, findet darin Rezepte. Wer im 19. Jahrhundert zum „Praktischen Kochbuch“ der Henriette Davidis griff, fand darin ein Weltbild. Dass beides nicht dasselbe ist, macht die Beschäftigung mit dieser Pfarrerstochter aus Wengern an der Ruhr so aufschlussreich – und so unbequem.

Johanna Friederika Henriette Katharina Davidis, geboren 1801 als zehntes von dreizehn Kindern eines evangelischen Geistlichen und seiner niederländischen Frau, wuchs in einem Milieu auf, das Bildung und Bescheidenheit gleichermaßen hochhielt. Der protestantisch-bürgerliche Pfarrhaushalt war Schule und Werkstatt zugleich: Hier lernte sie früh, was später zum Fundament ihrer Bücher werden sollte – die systematische Organisation häuslicher Arbeit.

Ihre Berufslaufbahn führte sie durch die Institutionen weiblicher Erwerbstätigkeit jener Zeit: Erzieherin, Lehrerin, Gesellschafterin in bürgerlichen Haushalten und Mädchenschulen. Diese Jahre waren keine bloße Vorbereitung auf das Schreiben, sondern dessen empirische Grundlage. Davidis beobachtete, lehrte, korrigierte – und erkannte eine Leerstelle: Es fehlte an systematischem Wissen über Haushaltsführung, das sich vermitteln ließ.

Als 1845 das „Praktische Kochbuch“ erschien, füllte es diese Lücke mit einer Konsequenz, die noch heute beeindruckt. Das Werk wurde zum Standardwerk der deutschen Küche, erreichte zu Lebzeiten der Autorin zahlreiche Auflagen und blieb weit über ihren Tod 1876 in Dortmund hinaus in Gebrauch. Doch wer darin nur eine Rezeptsammlung sieht, verkennt die Ambition.

Davidis entwickelte ein gestuftes Bildungssystem – von der „Puppenköchin“ für kleine Mädchen bis zu Ratgebern für verheiratete Frauen. „Die Hausfrau“ und ihre Schriften über den „Beruf der Hausfrau“ zielten auf nichts Geringeres als die Professionalisierung dessen, was bis dahin als naturgegebene weibliche Fähigkeit galt. Hausarbeit verstand sie als anspruchsvolle Tätigkeit, die systematische Bildung erforderte – eine Position, die ihrer Zeit voraus war und zugleich tief in ihr verwurzelt blieb.

Denn die praktischen Anleitungen zu Sparsamkeit und Ordnung kamen nicht ohne normative Begleitung. Bescheidenheit, Selbstverleugnung, Häuslichkeit und Frömmigkeit galten Davidis als Leitlinien weiblichen Verhaltens. Ihre Bücher vermittelten Kompetenzen, aber sie definierten auch Grenzen. Die Hausfrau sollte tüchtig sein – innerhalb ihres Hauses. Die bürgerliche Sphärentrennung zwischen männlicher Öffentlichkeit und weiblicher Häuslichkeit fand in Davidis‘ Werk ihre praktische Handreichung.

Die Wirkung reichte weit über das Bildungsbürgertum hinaus. Kleinbürgerliche und proletarische Milieus übernahmen das Modell, das hier systematisch dargelegt wurde. Das bürgerliche Familienideal verfestigte sich nicht zuletzt durch Kochbücher – ein Befund, der kulturgeschichtlich ernster zu nehmen ist, als er zunächst klingen mag. Normen wandern nicht durch Manifeste, sondern durch Alltag.

Die neuere Forschung betrachtet Davidis entsprechend ambivalent. War sie konservative Stütze traditioneller Geschlechterrollen oder Pionierin weiblicher Bildung? Die Frage ist falsch gestellt, weil sie Eindeutigkeit erwartet, wo historische Figuren selten eindeutig sind. Davidis wertete Hausarbeit auf, indem sie deren Komplexität sichtbar machte und Frauen mit Wissen ausstattete. Zugleich band sie dieses Wissen an ein Frauenbild, das Frauen auf eben jene Hausarbeit festlegte. Aufwertung und Eingrenzung waren bei ihr keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Prägung.

Die populäre Formel „Man nehme …“, die heute mit ihrem Namen verbunden wird, hat sie selbst vermutlich nie so verwendet. Doch dass sie zur „Erfinderin des Kochbuchs“ stilisiert wurde, zeigt, wie wirkmächtig ihre Systematisierung war. In Westfalen, in Wetter an der Ruhr und Dortmund, pflegen Gedenkstätten und kulinarische Initiativen ihr Erbe – eine regionale Erinnerungskultur, die sich eine Autorin verdient hat, deren Bücher einst in deutschen Küchen so selbstverständlich standen wie Salz und Mehl.

Henriette Davidis starb 1876, doch das „Praktische Kochbuch“ überlebte sie um Jahrzehnte. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erschienen Neuauflagen. Diese Langlebigkeit ist kein Zufall. Davidis hatte verstanden, was viele Reformer ihrer Zeit nicht begriffen: Wer Gesellschaft verändern will, muss den Alltag erreichen. Das gelang ihr – mit allen Widersprüchen, die dazugehören.


Quellen:

Henriette Davidis „Das Leben der glücklichen Gattin und Hausfrau ist eine stete Selbstverleugnung.

Henriette Davidis war die berühmteste Kochbuchautorin des 19. Jahrhunderts. In Wetter an der Ruhr kocht ein Herren-Fanclub regelmäßig ihre Gerichte nach. Zu Gast bei einem ungewöhnlichen Adventsessen.

Davidis VORNAME Henriette

Von Rolevinck

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