Vom Kamerahersteller zum Börsenmantel – die Geschichte der Balda AG zeigt exemplarisch, wie ein einstmals florierendes deutsches Industrieunternehmen durch strategische Fehlentscheidungen, fehlende Diversifikation und interne Machtkämpfe innerhalb weniger Jahre vollständig zerfallen kann. Eine Lehrstunde über die Gefahren der Abhängigkeit in globalen Märkten.
Es gibt Unternehmensgeschichten, die sich wie Parabeln lesen – Erzählungen von Aufstieg und Fall, die weit über das individuelle Schicksal einer Firma hinausweisen. Die Balda AG ist eine solche Geschichte. Was 1908 als Kamerahersteller begann und sich über Jahrzehnte zu einem bedeutenden Zulieferer der globalen Mobilfunkindustrie entwickelte, endete in einem jahrelangen Siechtum, das schließlich nur noch eine leere Börsenhülle hinterließ.
Vom traditionellen Handwerk zur globalen Zulieferung
Die Anfänge könnten konventioneller kaum sein: 1908 gegründet, durchlief Balda die typische Biografie eines mittelständischen deutschen Industriebetriebs. Nach dem Zweiten Weltkrieg in Bad Oeynhausen in Ostwestfalen angesiedelt, vollzog das Unternehmen in den 1980er Jahren einen entscheidenden Schwenk – weg von der Kameraproduktion, hin zur Kunststofftechnik. Dieser Schritt sollte sich zunächst als Glücksgriff erweisen.
In den 1990er und frühen 2000er Jahren erlebte Balda eine Blütezeit, die fast schon euphorisch anmutet. Über 8.000 Mitarbeiter weltweit, eine neue Großproduktion, Verträge mit namhaften Handyherstellern – das Unternehmen ritt auf der Welle des Mobilfunk-Booms. Die Spezialisierung auf Kunststoffteile für Mobiltelefone, Medizintechnik und Elektronik schien die perfekte Nische in einem expandierenden Markt zu sein. Bis 2005 kannte die Erfolgskurve nur eine Richtung: steil nach oben.
Die Kehrseite der Spezialisierung
Doch genau in dieser Fokussierung lag bereits der Keim des Niedergangs. Baldas strategische Entscheidung, sich stark auf den europäischen Mobiltelefonmarkt zu konzentrieren, erwies sich als fatale Wette auf eine Industrie, deren Zentrum sich unaufhaltsam nach Asien verlagerte. Als die europäischen Handyhersteller unter dem Druck asiatischer Konkurrenz zusammenbrachen oder ihre Produktion verlagerten, geriet Balda in einen Strudel, aus dem es keinen Ausweg mehr geben sollte.
Der Verlust des wichtigsten Kunden C.Brewer im Jahr 2015 markierte einen symbolischen Wendepunkt. Als dieser Großkunde die Produktion selbst übernahm, verschwanden mit einem Schlag zehn Prozent des Konzernumsatzes. Was nach außen wie eine einzelne unglückliche Entwicklung aussah, war in Wahrheit das Symptom eines systemischen Problems: Balda hatte sich in eine Position manövriert, in der das Unternehmen von wenigen Großkunden abhängig war, die selbst unter massivem Wettbewerbsdruck standen.
Die Abwärtsspirale: Restrukturierung als Dauerzustand
Ab Mitte der 2000er Jahre verfiel Balda in einen Zustand permanenter Krise. Restrukturierungen folgten auf Restrukturierungen, Tochtergesellschaften wurden verkauft, Geschäftsbereiche abgestoßen. Jeder dieser Schritte sollte die Rettung bringen – und verschlimmerte die Situation oft nur. Besonders perfide wirkten sich Ergebnisabführungsverträge aus: Balda musste für Verluste bereits verkaufter Töchter aufkommen, was die Liquidität des Konzerns systematisch aushöhlte.
Zwischen 2008 und 2016 durchlief das Unternehmen einen drastischen Schrumpfungsprozess. Der Ausstieg aus dem defizitären Mobilfunksektor kam zu spät, um das Kerngeschäft zu retten. Die Versuche, sich neu zu erfinden, glichen eher verzweifelten Manövern als durchdachter Strategie. Am Ende blieb nur noch der Verkauf des operativen Geschäfts an die italienische Stevanato-Gruppe – eine Kapitulation, die aus der Not geboren war.
Machtkämpfe im brennenden Haus
Während das Unternehmen wirtschaftlich zerfiel, lieferten sich Vorstand, Aufsichtsrat und Großaktionäre erbitterte Grabenkämpfe. Besonders prägend für diese Phase waren zwei Figuren, die unterschiedlicher kaum sein konnten: Bernhard Fennel, der langjährige Vorstandschef, und Lars Windhorst, der umstrittene Investor und Unternehmer.
Fennel, der Balda über Jahre hinweg führte, stand für Kontinuität in einer Zeit des radikalen Umbruchs – eine Kontinuität, die sich zunehmend als Beharrungsvermögen erwies. Unter seiner Ägide vollzog sich der schmerzhafte Schrumpfungsprozess, doch die Frage, ob er die richtigen strategischen Weichenstellungen traf oder ob er zu lange an überholten Geschäftsmodellen festhielt, begleitete seine Amtszeit wie ein Schatten. Bemerkenswert ist dabei ein Muster, das sich in Fennels Karriere wiederholt: Auch aus seinen anderen unternehmerischen Engagements zog er sich später zurück – und zwar stets rechtzeitig, bevor diese Unternehmen ebenfalls in die Insolvenz schlitterten. Dieses Timing wirft Fragen auf über die Fähigkeit zur Früherkennung von Krisen und darüber, wann Verantwortung endet und persönliche Schadensbegrenzung beginnt.
Lars Windhorst wiederum, bekannt für seine kontroversen Investitionen und seine Rolle in zahlreichen spektakulären Unternehmensdeals, stieg als Großaktionär bei Balda ein. Seine Beteiligung versprach frisches Kapital und neue Perspektiven, entpuppte sich jedoch als weiterer Konfliktherd. Windhorsts aggressive Investmentstrategie und seine Vorstellung von Unternehmensführung kollidierten mit den bestehenden Strukturen. Statt Stabilität zu bringen, verschärfte sein Engagement die bereits existierenden Spannungen zwischen den verschiedenen Lagern.
Die Konflikte um die Beteiligung an der taiwanesischen TPK illustrieren das Ausmaß der Dysfunktionalität: Der Wert dieser Beteiligung schmolz dahin, während verschleppte Verkaufsprozesse von einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern blockiert wurden. In dieser Zeit prallten unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft des Unternehmens aufeinander – zwischen denen, die das operative Geschäft retten wollten, und jenen, die auf Finanzinvestitionen setzten. Statt gemeinsam zu retten, was noch zu retten war, verloren sich die Verantwortlichen in Machtspielchen.
Diese internen Kämpfe waren nicht nur Begleiterscheinung des Niedergangs – sie waren ein wesentlicher Treiber. In einer Phase, in der schnelle, entschlossene Entscheidungen überlebenswichtig gewesen wären, lähmte sich Balda selbst durch Uneinigkeit und widersprüchliche Führung. Die Konstellation Fennel-Windhorst symbolisierte dabei den grundlegenden Konflikt zwischen traditioneller Industrieführung und modernem Finanzkapitalismus – ein Konflikt, den Balda nicht zu lösen vermochte.
Metamorphose zum Börsenmantel
Das Ende der Balda AG, wie sie einst war, vollzog sich nicht in einem dramatischen Zusammenbruch, sondern in einer schleichenden Transformation. Die Umbenennung in Clere AG und die Neupositionierung als Investmentvehikel im Bereich erneuerbare Energien liest sich wie der letzte Akt eines Theaterstücks, in dem alle ursprünglichen Protagonisten bereits die Bühne verlassen haben. Was bleibt, ist eine Börsennotierung – ein juristisches Konstrukt ohne industrielle Substanz.
Lehren aus dem Scheitern
Der Fall Balda ist mehr als die Geschichte eines gescheiterten Unternehmens. Er zeigt mit brutaler Klarheit die Risiken des modernen Kapitalismus: Wachstum ohne Diversifikation führt in die Abhängigkeit. Spezialisierung in dynamischen Märkten kann sich von einem Vorteil in eine existenzielle Bedrohung verwandeln. Und wenn strategische Fehler mit internen Machtkämpfen zusammentreffen, beschleunigt sich der Niedergang exponentiell.
Besonders bemerkenswert ist die Geschwindigkeit des Zerfalls. Innerhalb von etwas mehr als einem Jahrzehnt verschwand ein Unternehmen mit über 8.000 Mitarbeitern und globaler Präsenz quasi von der Landkarte. Die asiatische Konkurrenz erwies sich nicht nur als kostengünstiger, sondern auch als strukturell überlegen: kürzere Lieferketten, Nähe zu den Herstellern, aggressive Preisgestaltung.
Balda versäumte es, rechtzeitig gegenzusteuern – sei es durch geografische Diversifikation der Produktion, durch Erschließung neuer Märkte oder durch technologische Innovation, die einen Wettbewerbsvorteil hätte schaffen können. Die Versuche, das Geschäftsmodell zu retten, kamen zu spät und waren zu halbherzig. Die Ergebnisabführungsverträge, die eigentlich Kontrolle sichern sollten, wurden zur Falle.
Ein Symbol für strukturellen Wandel
Am Ende steht die Balda AG exemplarisch für einen größeren Strukturwandel: den Niedergang der europäischen Zulieferindustrie in Segmenten, in denen Kostenvorteile und Marktnähe entscheidend sind. In einer globalisierten Wirtschaft reicht es nicht mehr, qualitativ hochwertige Produkte zu liefern – man muss auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, flexibel auf Veränderungen reagieren und die eigene Abhängigkeit aktiv managen.
Die Geschichte der Balda AG endet nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern. Aus dem Kamerahersteller von 1908 wurde ein Kunststoffzulieferer, aus diesem ein Börsenmantel, aus diesem vielleicht irgendwann ein Vehikel für erneuerbare Energien. Was von der ursprünglichen industriellen Substanz bleibt, ist nichts als Erinnerung – und eine Warnung an alle Unternehmen, die glauben, Erfolg sei selbstverständlich und Märkte seien stabil.