Warendorf war einst eine reiche Hansestadt, deren Leinen selbst den englischen Königshof belieferte. Heute kämpft die westfälische Kleinstadt mit Insolvenz und Strukturkrise. Die Geschichte einer Stadt, die vom mittelalterlichen Wohlstand über industriellen Niedergang bis zur Verwaltungsabhängigkeit alle Phasen des westfälischen Strukturwandels durchlebte – und dabei verpasste, rechtzeitig neue Fundamente zu legen.
Die goldenen Jahrhunderte
Im Mittelalter war Warendorf mehr als eine westfälische Provinzstadt. Als Mitglied der Hanse lag die Stadt am Schnittpunkt wichtiger Fernhandelswege, ihre Kaufleute handelten bis zur Ostsee und in die Binnenlande. Was Warendorf jedoch zu Reichtum brachte, war die Textilproduktion. Warendorfer Leinen genoss überregionale Bekanntheit, die Qualität war legendär: Selbst der englische Königshof bezog seine Stoffe aus dem Münsterland. Spezialisierte Märkte für Heu, Schweine und Pferde zogen Händler aus der gesamten Region an, Gold- und Silberschmiede siedelten sich an, Gilden organisierten das Handwerk.
Die prächtigen Patrizierhäuser, die bis heute das Stadtbild prägen, sind steinerne Zeugen dieser Blütezeit. Zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert war Warendorf ein Kraftzentrum westfälischer Wirtschaft, eingebunden in die dichten Netzwerke der Hanse, selbstbewusst und wohlhabend.
Der lange Verfall
Doch Wohlstand ist vergänglich. Im 17. und 18. Jahrhundert hielt die Leinen- und Tuchproduktion zwar noch das wirtschaftliche Gerüst zusammen, doch die Gilden, einst Garanten für Qualität und Ordnung, wurden aufgehoben und wieder eingeführt, die soziale Ordnung geriet ins Wanken. Anfang des 19. Jahrhunderts folgte der völlige Zusammenbruch des traditionellen Handwerks. Die industrielle Revolution griff spät auf Warendorf über – erst ab 1861 entstanden mechanische Webereien. Der Übergang zur Fabrikindustrie war schmerzhaft: Massenverarmung, Pauperismus, soziale Verwerfungen. Viele konnten den Wandel nicht bewältigen.
Erst mit dem Eisenbahnanschluss 1887 erlebte Warendorf einen Wiederaufschwung. Die Textilindustrie spezialisierte sich auf maschinelle Leinen- und Baumwollverarbeitung, um 1954 war die Stadt einer der wichtigsten deutschen Standorte für Inlettwaren. Doch dieser zweite Frühling sollte nicht von Dauer sein.
Die Deindustrialisierung
Was im 20. Jahrhundert geschah, liest sich wie die Chronik eines schleichenden Niedergangs. Brinkhaus Betten, über 130 Jahre lang einer der größten europäischen Hersteller von Bettwaren und Arbeitgeber für über tausend Menschen, ging 2011 in die Insolvenz. Die Produktion wurde verlagert, die Textilindustrie verschwand praktisch aus der Stadt. Die Miele-Küchenproduktion, 2005 ausgegliedert und als „Warendorfer Küchen GmbH“ weitergeführt, schloss Anfang 2024 endgültig ihre Tore. Nur ein Kunststoffteilewerk blieb übrig.
Und dann, im Jahr 2024, musste auch noch das Josephs-Hospital Insolvenz anmelden – der größte verbliebene Arbeitgeber der Stadt. Der Fortbestand ist ungewiss, hunderte Arbeitsplätze sind bedroht.
Auch traditionsreiche Mittelständler traf die Krise: Sanitop-Wingenroth, seit 1975 in Warendorf ansässig und mit rund 300 Mitarbeitern ein bedeutender Sanitärgroßhändler mit 95 Millionen Euro Jahresumsatz, meldete im Mai 2024 Insolvenz an. Trotz anfänglicher Hoffnungen auf Sanierung wurde im August 2024 das endgültige Aus verkündet – kein Investor war gefunden worden, allen Beschäftigten wurde gekündigt. Was bleibt, ist eine Stadt ohne industrielle Basis, ohne große Arbeitgeber, ohne wirtschaftliche Perspektive.
Die trügerische Hoffnung
Zwischenzeitlich schien es, als könnte Warendorf doch noch eine Wende schaffen. 2018 gründeten die münsterländischen Weltmarktführer Haver & Boecker und Windmöller & Hölscher das Gemeinschaftsunternehmen Aventus – spezialisiert auf Verpackungsanlagen für Schüttgüter. Der damalige Bürgermeister Axel Linke jubelte: Die größte Firmenansiedlung seit den 1970er Jahren. Ein 20.000 Quadratmeter großer Campus im Gewerbegebiet Katzheide, mehr als 200 Arbeitsplätze, 80 Millionen Euro geplanter Jahresumsatz. Ein Signal, dass Warendorf noch Qualitätsstandort sein könne.
Ende 2020 bezog Aventus den Neubau, die Produktion lief Anfang 2021 an. Ein modernes Unternehmen mit innovativer Technologie, getragen von zwei erfolgreichen Familienunternehmen aus der Region – es sollte der Beweis sein, dass industrielle Neuansiedlung möglich ist. Doch ein Hoffnungsschimmer macht noch keine Trendwende. Aventus bleibt die Ausnahme, nicht die Regel. Eine einzelne Ansiedlung kann nicht aufwiegen, was Jahrzehnte versäumt wurde.
Die verpasste Chance
Die bittere Wahrheit ist: Warendorf hat den Niedergang nicht bekämpft. Ähnlich wie das benachbarte Münster verfolgte die Stadt nach dem Rückzug der Industrie keine aktive Ansiedlungspolitik. Stattdessen setzte man auf Verwaltung, Dienstleistungen und Gesundheitswesen. Man pflegte die sanierte Altstadt, warb mit Reitsport und Fachwerkidylle, bewahrte die historische Substanz. Alles ehrenwerte Ziele – doch sie schaffen keine Arbeitsplätze, keine Steuereinnahmen, keine wirtschaftliche Dynamik.
Während andere Städte des Münsterlands, des Ruhrgebiets oder Südwestfalens um neue Industriezweige kämpften, blieb Warendorf passiv. Die Folge: Strukturwandel ohne industrielle Erneuerung, wachsende Abhängigkeit von öffentlichen Haushalten und staatsnahen Strukturen. Eine „Verwaltungsinsel“ ohne produktive Basis, anfällig für Krisen, ohne Perspektiven für junge Menschen, die gehen müssen, um Arbeit zu finden.
Aventus hätte zeigen können, dass Ansiedlung möglich ist – aber selbst dieses sorgfältig geplante Projekt von zwei Weltmarktführern geriet binnen weniger Jahre in Schieflage. Wenn nicht einmal solche Bedingungen für Erfolg ausreichen, welche Chancen haben dann kleinere Unternehmen? Die Kurzarbeit bei Aventus ist mehr als ein betriebswirtschaftliches Problem – sie ist das Symbol für das Scheitern einer ganzen Standortstrategie.
Eine Lektion für die Gegenwart
Warendorf ist kein Einzelfall. Die Stadt teilt ihr Schicksal mit vielen Mittelstädten der Region, die von Globalisierung, Standortverlagerungen und dem Rückzug großer Arbeitgeber getroffen wurden. Doch während andere kämpften, verwaltete Warendorf seinen Niedergang. Die Geschichte dieser Stadt ist eine Lektion darüber, was geschieht, wenn man sich auf vergangenen Ruhm verlässt und vergisst, dass Wohlstand erarbeitet werden muss – immer wieder, in jeder Generation neu.
