Während deutsche Städte nach 1945 in die Moderne strebten, wählte Münster einen anderen Weg. Der Wiederaufbau des Prinzipalmarktes wurde zum Sinnbild einer Stadt, die ihre Identität nicht in den Trümmern begraben wollte – und schuf damit eines der bemerkenswertesten Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte.


Im Sommer 1945 glich Münster einer Mondlandschaft. Neun Zehntel der Stadt lagen in Schutt und Asche, der Prinzipalmarkt – einst stolzes Herzstück des bürgerlichen Münsters – war nahezu vollständig ausgelöscht. Nur vereinzelte Arkaden ragten wie Skelette aus den Trümmern, dazwischen Kellergewölbe, die von der einstigen Pracht zeugten. Was folgte, war mehr als bloßer Wiederaufbau. Es war ein kollektiver Akt des Willens, eine städtebauliche Entscheidung von historischer Tragweite und ein bürgerschaftliches Engagement, das seinesgleichen sucht.

Bereits im August 1945, als die Verwaltung noch improvisiert arbeiten musste, stellte der Architekt Hans Ostermann die ersten Bauanträge für Parzellen am Prinzipalmarkt. Es gab kein funktionierendes Bauamt, kaum Material, keine gefestigten Pläne. Doch Provinzialkonservator Wilhelm Rave erkannte die Chance: Die Neubauten sollten sich „stärker am ursprünglichen Zustand“ orientieren. Diese Entscheidung, in jenen Tagen der Ungewissheit getroffen, legte den Grundstein für das, was später als „Münsteraner Spezifikum“ in die Architekturgeschichte eingehen sollte.

Was in Münster geschah, war weder eine exakte Rekonstruktion im denkmalpflegerischen Sinne noch eine radikale Modernisierung, wie sie andernorts propagiert wurde. Es war eine dritte Option: eine historisierend vereinfachte Fortführung des Stadtbildes, eine „raumästhetische Rekonstruktion“, die das Gefüge der alten Stadt mit zeitgenössischen Mitteln wieder erlebbar machte. Die Kaufleute, die ihre Geschäfte rasch wiedereröffnen wollten, bauten auf den alten Parzellen, verwendeten Baumberger Sandstein und erneuerten die charakteristischen beidseitigen Arkadengänge.

Ostermann selbst errichtete acht der prägenden Häuser – darunter die markante Fassade des späteren Café Schucan – und prägte damit maßgeblich das neue alte Gesicht des Platzes.

Diese Entscheidung für die Tradition war nicht unumstritten. Zeitgenössische Kritiker warfen dem Wiederaufbau „Heimattümelei“ und „Maskerade“ vor. Zu einer Zeit, in der das moderne Deutschland sich von seiner belasteten Vergangenheit abwenden wollte, erschien vielen die Rückbesinnung auf historische Formen als rückwärtsgewandt, ja reaktionär. Doch der Stadtplaner Konstanty Gutschow erkannte bereits 1948 die Bedeutung dessen, was in Münster geschah. Er prophezeite, die Stadt werde „ein Werk vollbringen, für das eines Tages auch das übrige Deutschland dankbar sein wird.“

Seine Worte sollten sich bewahrheiten. Während zahlreiche deutsche Städte ihre historischen Zentren zugunsten autogerechter Modernität opferten und erst Jahrzehnte später den Verlust ihrer Identität beklagten, hatte Münster einen anderen Weg gewählt. Der Prinzipalmarkt wurde nicht nur wiederaufgebaut – er wurde zum Symbol für eine Stadt, die wusste, wer sie war und wer sie bleiben wollte.

Bis 1952 hatten die Münsteraner über 2,8 Millionen Tonnen Trümmer beseitigt, eine kollektive Leistung, an der alle arbeitsfähigen Bürgerinnen und Bürger beteiligt waren. Dieser physische Kraftakt war die Voraussetzung für den kulturellen: die Wiedergewinnung eines Stadtbildes, das Kontinuität vermittelte, ohne die Wunden der Geschichte zu leugnen.

Der Wiederaufbau des Prinzipalmarktes war mehr als eine architektonische Meisterleistung. Er war ein Bekenntnis zur lokalen Identität in einer Zeit des Umbruchs, ein bürgerschaftlicher Konsens über den Wert von Tradition und eine denkmalpflegerische Weitsicht, die ihrer Zeit voraus war. Im Rückblick zeigt sich: Münster hat nicht einfach seine Vergangenheit rekonstruiert. Die Stadt hat sich selbst neu erfunden – mit dem Gesicht der Vergangenheit, aber mit dem Willen der Gegenwart. Das macht den Prinzipalmarkt bis heute zu einem der eindrucksvollsten Zeugnisse deutscher Nachkriegsgeschichte und zu Münsters größter kultureller Errungenschaft jener Jahre.


Quellen:

Revisited: Wiederaufbau des Prinzipalmarkts in Münster – 1945 bis heute

Das neue alte Münster

Münster. Wiederaufbau und Wandel

Von Rolevinck

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