Als im Mai 1849 preußische Truppen in Iserlohn ein Massaker anrichteten, war die Hoffnung auf Demokratie in Westfalen mit Blut erstickt. Dutzende Vorkämpfer der Freiheit mussten fliehen – nach Amerika, England, in die Schweiz. Andere blieben und suchten neue Wege. Von Radikalen wie Caspar Butz über Vermittler wie Carl Volckhausen bis zum Bischof Diepenbrock: Die westfälischen Revolutionäre des Vormärz waren so vielfältig wie ihre Schicksale. Ein Beitrag über vergessene Kämpfer und ein Erbe, das bis heute nachwirkt.
Es gibt Epochen, die sich in der kollektiven Erinnerung eines Volkes festsetzen wie Brandnarben. Der Vormärz – jene knapp zwei Jahrzehnte zwischen 1830 und dem Revolutionsjahr 1848 – gehört dazu, auch wenn er im deutschen Geschichtsbewusstsein oft nur als Vorspiel erscheint, als Anlauf zu etwas Größerem, das dann doch scheiterte. Doch wer waren diese Menschen, die in deutschen Landesteilen revolutionäre Gedanken säten? Wer waren die Westfalen, die von der Einigung Deutschlands und der Einführung der Demokratie träumten, lange bevor beides Wirklichkeit wurde?
Ihre Namen lesen sich heute wie ein vergilbtes Namenregister der deutschen Radikaldemokratie: Ferdinand Freiligrath, der „Trompeter der Revolution“, Georg Weerth, Hermann Kriege, Karl-Heinrich Brüggemann, Friedrich Kapp, Fritz und Mathilde Franziska Anneke, Alexander Friedländer, Caspar Butz, Carl Volckhausen. Intellektuelle, Journalisten, Dichter, Anwälte, Unternehmer, selbst Geistliche – politisch interessierte Köpfe, wie man heute sagen würde, getrieben von den Idealen der Französischen Revolution, die sie auch auf deutschem Boden zum Sieg führen wollten.
Das Scheitern und seine Folgen
Als im März 1848 die Revolution kam, die sie herbeigesehnt hatten, brachte sie zunächst Hoffnung. Doch die Hoffnung währte kurz. Die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zerbrach an inneren Widersprüchen und äußerem Druck. In Westfalen und Lippe offenbarte sich das Scheitern besonders brutal: Die „Iserlohner Revolution“ endete im Mai 1849 in einem Massaker, das der preußische Staat als warnendes Exempel inszenierte. Das Blut, das dort vergossen wurde, schrieb sich in das kollektive Geschichtsgedächtnis ein – als Mahnung daran, was geschieht, wenn lokale Initiativen auf massive staatliche Repression treffen.
Für viele Anhänger demokratischer Ideen bedeutete dies das Ende ihrer Existenz in Deutschland. Sie mussten fliehen – über Nacht, mit gefälschten Papieren, in Kutschen und auf Schiffen, die sie in eine ungewisse Zukunft trugen. Die Emigration der 1848er ist eine Geschichte der Zerstreuung. Die revolutionären Westfalen verteilten sich über Kontinente. England wurde zum ersten Zufluchtsort vieler, die USA zum gelobten Land der gescheiterten Revolution. Die Schweiz bot jenen Unterschlupf, die dem Kontinent treu bleiben wollten.
Die radikalen Geister
Georg Weerth, der in England Bekanntschaft mit Karl Marx und Friedrich Engels machte, verkörpert den Typus des rastlosen Revolutionärs. Seine Reise führte ihn weiter nach Havanna, wo er starb – weit entfernt von dem Deutschland, für das er gekämpft hatte. Hermann Kriege teilte Weerths Begegnung mit Marx und Engels, doch ihm wurde sie zum Verhängnis. Die ideologischen Differenzen, die sich in diesen Treffen offenbarten, zeigen, wie zersplittert die demokratische Bewegung war. Georg Bühren hat Krieges bewegtes Leben später im Roman „Das Zirkular“ festgehalten – ein literarisches Denkmal für einen vergessenen Kämpfer.
Caspar Butz gehörte zu den radikalsten Stimmen der westfälischen Demokratiebewegung. Als Publizist und Sprecher der Revolution setzte er sich kompromisslos für Pressefreiheit und allgemeine politische Teilhabe ein. Nach dem Scheitern der Revolution floh er in die USA, wo er als Journalist weiterarbeitete und sein politisches Engagement fortsetzte. Butz repräsentiert jenen Flügel der Bewegung, der keine halben Sachen machen wollte – Demokratie hieß für ihn nicht Kompromiss, sondern radikale Veränderung.
Karl-Heinrich Brüggemann hatte seinen großen Auftritt bereits vor 1848. Auf dem legendären Hambacher Fest hielt er zwei flammende Reden für die Freiheit und Einheit Deutschlands. Das Hambacher Fest von 1832 war der Auftakt zum Vormärz, ein Fanal, das weithin leuchtete. Brüggemanns Worte hallten nach, auch wenn sie die ersehnte Einigung nicht herbeiführen konnten.
Die Pragmatiker und Vermittler
Nicht alle Revolutionäre waren Radikale. Alexander Friedländer, liberaler Jurist und Politiker, stand für jenen Teil der Bewegung, der Veränderung durch Rechtsstaatlichkeit erreichen wollte. In lokalen Versammlungen wirkte er als Fürsprecher der revolutionären Bewegung und als Berater – ein Mann, der die Sprache des Rechts sprach, um demokratische Reformen durchzusetzen. Friedländers Ansatz zeigt, dass die Revolution von 1848 mehr war als Barrikadenkämpfe: Sie war auch ein Ringen um Institutionen, um Verfahren, um die Frage, wie eine neue Ordnung aussehen sollte.
Carl Volckhausen, ebenfalls Jurist und Abgeordneter, verkörperte die moderate Linie. Sein Streben galt einer konstitutionellen Monarchie und behutsamen Reformen. Als Vermittler und Organisator versuchte er, zwischen den Extremen zu navigieren. Auch nach der Niederschlagung der Revolution blieb er als kritischer Kopf im politischen Diskurs aktiv – ein Beispiel dafür, dass man auch nach der Niederlage nicht verstummen musste, wenn man die richtigen Kompromisse einging.
Eine besondere Figur in diesem Spektrum war Conrad Joseph Diepenbrock, katholischer Priester und später Bischof. Als moralische Autorität in Westfalen bemühte er sich um Vermittlung zwischen revolutionären Gruppen und staatlichen Autoritäten. Seine konservative Haltung führte zu Spannungen mit den radikalen Teilen der Bewegung, doch seine Stimme hatte Gewicht. Diepenbrock zeigt, dass die Revolution von 1848 auch die Kirche vor die Frage stellte, wie sie sich zu den Forderungen nach Freiheit und Teilhabe verhalten sollte.
Christian Essellen brachte eine weitere Perspektive ein: die des Unternehmers. Als liberaler Politiker setzte er sich für wirtschaftliche und politische Modernisierung ein. Seine Erfahrung aus der Geschäftswelt prägte seine Argumentation für freie Märkte und Bürgerrechte. Essellen unterstützte die revolutionären Forderungen nach wirtschaftlichen Reformen und sprach sich gegen repressive Maßnahmen des preußischen Staates aus. In ihm verbanden sich ökonomischer Liberalismus und politischer Freiheitswille – eine Kombination, die für viele Teile des Bürgertums charakteristisch war.
Neue Heimat, neue Kämpfe
Friedrich Kapp verkörpert die Ambivalenz der gescheiterten Revolution besonders eindrücklich. 1848 ging er als Journalist zur Nationalversammlung nach Frankfurt, wo er sich politisch auf Seiten der demokratisch-republikanischen Linken engagierte. Seine Verstrickung in die Septemberaufstände zwang ihn zur Flucht. In New York ließ er sich als Rechtsanwalt nieder – ein erfolgreicher Neuanfang im Exil. Doch die Geschichte hatte eine bittere Ironie parat: Sein Sohn Wolfgang wurde als Anführer des „Kapp-Putsches“ von 1920 zum Symbol reaktionärer Gegenrevolution. Der Vater hatte für die Demokratie gekämpft, der Sohn versuchte sie zu stürzen.
Fritz Anneke gehörte zu den Gründern des Kölner Arbeitervereins, eines Vorläufers der SPD, zusammen mit Marx, Engels, Ferdinand Lassalle und Moses Hess. Nach 1848 floh er mit seiner Frau Mathilde Franziska nach Amerika, wo er Offizier wurde. Mathilde stand ihm in ihrem revolutionären Eifer in nichts nach – sie wurde zu einer der führenden Gestalten der US-amerikanischen Frauenbewegung. Auch sein Bruder Emil teilte den demokratischen Idealismus der Familie. Die Annekes zeigen, dass die Revolution von 1848 nicht nur eine nationale, sondern auch eine soziale und emanzipatorische Dimension hatte.
Joseph Weydemeyer und Conrad von Rappard erweiterten die Landkarte der Emigration. Weydemeyer zog ebenfalls in die USA, Rappard fand über mehrere Stationen den Weg in die Schweiz. Jeder dieser Wege steht für ein zerschlagenes Leben, das neu zusammengesetzt werden musste – in fremder Sprache, fremder Kultur, unter fremden Gesetzen.
Die Daheimgebliebenen
Nicht alle mussten fliehen. Franz von Löher geriet wegen seiner demokratischen Gesinnung mit der Obrigkeit in Konflikt und wurde 1848 inhaftiert, kam aber bald wieder frei. Seine Geschichte zeigt, dass das Schicksal der Revolutionäre auch davon abhing, wie radikal sie waren, wie gefährlich man sie einschätzte, welche Verbindungen sie hatten.
Karl Grün machte sich neben seiner Tätigkeit als Journalist und linksdemokratischer Politiker in der Frankfurter Nationalversammlung vor allem als Herausgeber der Werke Ludwig Feuerbachs einen Namen. Grün verkörpert den intellektuellen Flügel der Bewegung, jene, die nicht nur auf den Barrikaden, sondern auch am Schreibtisch kämpften.
Die revolutionäre Peripherie
Die Forschung hat in den letzten Jahren den Blick verstärkt auf die „revolutionäre Peripherie“ gerichtet – auf jene lokalen Initiativen und Netzwerke, die fernab der großen Zentren wie Frankfurt oder Berlin agierten. In Westfalen und Lippe zeigt sich besonders deutlich, wie schnell Hoffnung in Gewalt umschlagen konnte. Die Iserlohner Ereignisse sind nur das bekannteste Beispiel für eine Dynamik, die viele Orte erfasste: Bürgerversammlungen, Petitionen, Demonstrationen – und dann die brutale Antwort des Staates.
Die Akteursnetzwerke, die Wilfried Reininghaus und andere Historiker rekonstruiert haben, offenbaren ein komplexes Geflecht aus persönlichen Beziehungen, ideologischen Differenzen und strategischen Überlegungen. Die westfälischen Revolutionäre waren keine homogene Gruppe. Sie stritten über Ziele und Mittel, über die Frage, wie radikal man sein durfte oder musste. Manche setzten auf die Kraft der Argumente, andere auf die Macht der Massen. Manche wollten die Monarchie reformieren, andere sie abschaffen.
Ein verblasstes Erbe
Was bleibt von diesen Westfalen des Vormärz? In den Geschichtsbüchern finden sie meist nur Fußnoten. Ihre Namen tauchen auf, wenn von Marx und Engels die Rede ist, wenn das Hambacher Fest erwähnt wird, wenn die Emigration nach 1848 behandelt wird. Doch als eigenständige Akteure, als Menschen mit Hoffnungen, Enttäuschungen, mit komplexen Biografien und widersprüchlichen Überzeugungen bleiben sie oft unsichtbar.
Dabei erzählen ihre Geschichten viel über die Zerrissenheit des deutschen 19. Jahrhunderts, über die Schwierigkeit, demokratische Ideen in einem von Kleinstaaterei und Obrigkeitsdenken geprägten Land durchzusetzen. Sie erzählen von der Kraft des Idealismus, aber auch von seiner Ohnmacht gegenüber den Realitäten der Macht. Sie zeigen, wie unterschiedlich die Wege sein konnten, die Menschen im Namen der Freiheit gingen – von der radikalen Konfrontation bis zum vorsichtigen Reformismus, vom bewaffneten Kampf bis zur diplomatischen Vermittlung.
Die westfälischen Revolutionäre des Vormärz waren Vorkämpfer einer Idee, deren Zeit noch nicht gekommen war. Manche von ihnen konnten ihre Ideale im Exil weiterleben – in der amerikanischen Frauenbewegung, in der Arbeiterbewegung, in publizistischen und literarischen Arbeiten. Andere zerbrachen an der Niederlage, an der Fremde, an den internen Streitigkeiten der revolutionären Bewegung. Wieder andere arrangierten sich mit den neuen Verhältnissen und suchten nach Wegen, ihre Ziele unter veränderten Bedingungen weiterzuverfolgen.
Das Massaker von Iserlohn, die Flucht über Grenzen, die Jahre im Exil, die mühsame Rückkehr oder das endgültige Verbleiben in der Fremde – all das prägt bis heute das Verständnis von Demokratieentwicklung und gesellschaftlicher Mobilisierung in Westfalen und Lippe. Die Revolution von 1848/49 war keine Episode, die folgenlos blieb. Sie wirkte nach, in Biografien und Familiengeschichten, in politischen Traditionen und kollektiven Erinnerungen.
Ihre Erinnerung zu bewahren bedeutet, sich klarzumachen, dass Demokratie und Freiheit nie selbstverständlich waren. Dass Menschen dafür kämpften, litten, ins Exil gingen – oder blieben und einen Preis zahlten. Die vergessenen Revolutionäre Westfalens erinnern uns daran, dass Geschichte von Menschen gemacht wird – auch und gerade dann, wenn sie scheitern. Ihr Scheitern war nicht umsonst. Es war Teil eines langen, mühsamen Weges, auf dem jeder Schritt, jeder Versuch, jede Niederlage die nächste Generation ein Stück weiterbrachte.
Quelle:
Westfälische Revolutionäre des Vormärz
