Wo einst Fördertürme den Himmel durchstachen und Werkshallen den Takt der Schwerindustrie schlugen, entstehen heute Start-ups, Forschungslabore und digitale Innovationen. Bochum hat den schmerzhaften Abschied von Opel und Nokia in eine bemerkenswerte Metamorphose verwandelt – und zeigt, wie aus industriellem Erbe eine High-Tech-Zukunft werden kann.


Es gibt Städte, die ihre Identität aus der Vergangenheit ziehen. Und es gibt Städte, die ihre Vergangenheit zur Plattform für etwas Neues machen. Bochum gehört zur zweiten Kategorie. Der Strukturwandel, der sich im Ruhrgebiet über Jahrzehnte hinzog und oft von Resignation begleitet wurde, hat hier eine ungewöhnliche Wendung genommen. Aus der Krise erwuchs nicht nur Anpassung, sondern Neuerfindung.

Der Abschied als Anfang

Als 2014 das letzte Auto vom Band des Opel-Werks rollte, war das nicht nur ein wirtschaftlicher Einschnitt – es war ein symbolischer Moment. Bochum verlor einen Großarbeitgeber, der Generationen von Familien ernährt hatte. Kurz zuvor hatte bereits Nokia seine Pforten geschlossen. Die Stadt stand vor der Frage, die viele Industriestädte in Europa umtreibt: Was kommt nach der Industrie?

Die Antwort fiel pragmatisch aus. Statt in Nostalgie zu verharren, wurden die frei gewordenen Flächen zu Experimentierzonen erklärt. Das ehemalige Opel-Werk verwandelte sich in einen modernen Gewerbepark, der gezielt auf Zukunftsbranchen setzt: Logistik, IT, Gesundheitstechnologie, Forschung. Wo einst Karosserien geschweißt wurden, sitzen heute 6.000 Menschen in 38 Unternehmen – von Start-ups, die an künstlicher Intelligenz feilen, bis zu etablierten Konzernen wie Bosch, DHL und VW, die hier ihre Innovationslabore betreiben.

Ein Ökosystem der Vernetzung

Was Bochum von anderen Städten im Strukturwandel unterscheidet, ist die systematische Vernetzung. Initiativen wie „BOtechnologies“ und das Technologiequartier sind keine Worthülsen, sondern funktionierende Plattformen, auf denen Wissenschaft, Wirtschaft und Gründergeist aufeinandertreffen. Die Themenfelder sind bewusst gewählt: Gesundheitswirtschaft, IT-Sicherheit, Produktionswirtschaft, Smart Mobility, Data Science. Es sind die Branchen, in denen Deutschland international noch Vorsprung hat – oder zurückgewinnen will.

Die Stadt agiert dabei weniger als Verwalter denn als Moderator. Sie schafft Räume, in denen Technologietransfer nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich wird. Das ist keine Selbstverständlichkeit. In vielen deutschen Städten verläuft die Grenze zwischen Universität und Industrie, zwischen Forschung und Anwendung noch immer wie eine unsichtbare Mauer. In Bochum scheint diese Mauer durchlässiger geworden zu sein.

Die Ruhr-Universität als Motor

Im Zentrum dieser Transformation steht die Ruhr-Universität Bochum. Sie ist nicht nur Bildungseinrichtung, sondern Inkubator für High-Tech-Gründungen. Das WORLDFACTORY Start-up Center ist eine dieser Keimzellen, aus denen regelmäßig Unternehmen hervorgehen, die sich mit IT-Security, Digital Health, Wasserstofftechnologie und intelligenter Sensorik beschäftigen. Es sind Themen, die nicht nur regional, sondern global relevant sind.

Ein besonders markantes Beispiel für diese Strategie ist das ZESS – das Zentrum für das Engineering Smarter Produkt-Service-Systeme. Der 2021 fertiggestellte Forschungsbau steht mitten auf dem ehemaligen Opel-Gelände, auf Mark 51°7, und verkörpert damit symbolisch die Transformation vom Fließband zur Forschung.

Mit rund 28 Millionen Euro vom Bund und Land gefördert, bündelt das ZESS Kompetenzen aus Ingenieur-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften. Hier wird an Industrie 4.0, nachhaltigen Produktionsmethoden und intelligenten Service-Systemen geforscht – interdisziplinär und in direkter Nachbarschaft zu den Unternehmen, die diese Innovationen umsetzen sollen. Das ZESS ist nicht nur Labor, sondern auch Brücke zwischen Grundlagenforschung und industrieller Anwendung.

Die Gründerszene profitiert von Förderprogrammen wie „HIGH-TECH.NRW“, die das Land Nordrhein-Westfalen aufgelegt hat. Bochumer Start-ups gewinnen bei internationalen Wettbewerben Preise, ziehen Investoren an und schaffen Arbeitsplätze. Es entsteht eine Dynamik, die sich selbst verstärkt: Erfolgreiche Gründer werden zu Mentoren, ehemalige Start-ups zu Investoren, und die Universität liefert kontinuierlich Nachwuchs.

Die digitale Stadt

Bochum nennt sich Smart City, und das ist mehr als ein Etikett. Laut Digital-Index Ruhr gehört die Stadt zu den digitalsten der Region. Die Verwaltung treibt den Ausbau von E-Government voran, die Infrastruktur wird auf Gigabit-Geschwindigkeit getrimmt, und offene Innovationsplattformen laden Bürger und Unternehmen ein, mitzudenken und mitzugestalten. In bundesweiten Smart City Rankings belegt Bochum regelmäßig vordere Plätze.

Das klingt nach Zukunft, ist aber auch ganz praktisch. Digitale Bürgerdienste sparen Zeit, Glasfasernetze ermöglichen Heimarbeit und Unternehmensansiedlungen, offene Datenplattformen schaffen Transparenz. Die Stadt wird nicht digital, weil es modern klingt, sondern weil es funktional ist.

Die Rückkehr der Industrie – in neuem Gewand

Interessanterweise ist die Industrie nicht verschwunden. Sie hat sich nur verändert. ThyssenKrupp investiert in Bochum in neue Hightech-Stahlwerke, die speziell für die Elektromobilität produzieren. Moderne Produktionsprozesse, die auf Automatisierung, Datenanalyse und Nachhaltigkeit setzen, ersetzen die alten Schmelzöfen. Es sind nicht die Arbeitsplätze von gestern, aber es sind hochwertige, technologische Arbeitsplätze mit Perspektive.

Diese Verbindung von Forschung und Industrie ist kein Zufall. Sie ist das Ergebnis einer bewussten Strategie, die darauf setzt, dass Innovation nicht nur in Laboren entsteht, sondern in der Anwendung. Wenn Forscher und Ingenieure in derselben Stadt arbeiten, wenn Universitäten und Unternehmen sich nicht als Konkurrenten, sondern als Partner verstehen, dann entsteht das, was man ein Innovationsökosystem nennt.

Ein tragfähiges Modell?

Bochum ist kein Einzelfall, aber ein besonders prägnantes Beispiel. Die Stadt hat bewiesen, dass Strukturwandel nicht zwangsläufig Niedergang bedeutet. Sie hat aus der Krise eine Strategie gemacht, aus frei gewordenen Flächen Möglichkeitsräume, aus dem Ende der Schwerindustrie den Anfang einer Wissensökonomie.

Das gelingt nicht über Nacht, und es gelingt nicht ohne Brüche. Es gibt Menschen, die im Strukturwandel zurückgeblieben sind, Branchen, die sich nicht so schnell anpassen konnten, Quartiere, die noch auf ihren Aufschwung warten. Aber die Richtung stimmt. Bochum ist heute ein Ort, an dem High-Tech-Start-ups genauso zu Hause sind wie traditionelle Industrieunternehmen, an dem Wissenschaft und Wirtschaft Hand in Hand arbeiten, an dem Digitalisierung nicht nur Verwaltung, sondern Gesellschaft verändert.

Die Stadt hat sich von einem klassischen Industriestandort zu einem vielseitigen Innovationszentrum entwickelt. Sie ist international sichtbarer geworden, für Investoren attraktiver, für Talente interessanter. Das ist kein Zufall. Das ist das Ergebnis von Entscheidungen, die vor Jahren getroffen wurden, von Weichenstellungen, die mutig waren, und von einer Haltung, die aus Vergangenheit keine Identität, sondern ein Fundament macht.

Bochum zeigt: Es gibt ein Leben nach der Industrie. Und es kann sogar ein gutes sein.

Von Rolevinck

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