Von Paderborn bis zum Vatikan, von Reformatoren bis zu Kardinälen – Westfalen hat über Jahrhunderte hinweg Kirchengeschichte geschrieben. Eine Region, die nicht nur theologische Debatten entfachte, sondern auch die höchsten Würdenträger der christlichen Kirchen hervorbrachte.


Es gibt Landstriche, die in der Geschichte vor allem durch weltliche Macht glänzen oder durch militärische Stärke. Westfalen hingegen hat sich einen anderen Ruf erworben: als geistliches Zentrum, als Brutstätte theologischen Denkens und als Kaderschmiede kirchlicher Würdenträger. Was im Mittelalter mit Bischof Meinwerk von Paderborn begann, dessen architektonischer Einfluss noch heute im Stadtbild sichtbar ist, entwickelte sich über die Jahrhunderte zu einer bemerkenswerten Tradition.

Die Reformation als Wendepunkt

Mit der Reformation endete auch in Westfalen die uneingeschränkte Vorherrschaft der katholischen Kirche. Der Humanismus hatte hierfür den Boden bereitet: Gelehrte wie Alexander Hegius, Rudolf von Langen und Dietrich Coelde öffneten den Horizont für neue theologische Perspektiven. In dieser Atmosphäre konnte die reformatorische Bewegung Fuß fassen. Hermann Hamelmann, nicht ohne Grund als „Reformator Westfalens“ bezeichnet, verhalf ihr in der Region zum Durchbruch. In Lippe übernahmen Simon von Exter und Graf Bernhard III. diese Rolle, während Nikolaus Krage vor allem in Minden wirkte.

Im 19. Jahrhundert kam es zu neuen geistlichen Aufbrüchen. Besonders wirkmächtig war die Minden-Ravensberger Erweckungsbewegung, eine pietistische Strömung, die als Reaktion auf Rationalismus und Aufklärung entstand und weitreichende soziale, kirchliche und kulturelle Folgen hatte. Ihr Anliegen war ein „lebendiger“ Glaube, getragen von persönlicher Bekehrung, gemeinschaftlichem Gebet und aktiver Nächstenliebe. Bibelstunden, Zeltmissionen und Missionsfeste prägten das religiöse Leben ebenso wie die zahlreichen Posaunenchöre, die aus dieser Bewegung hervorgingen. Träger waren zunächst Laien und jüngere Geistliche, allen voran Johann Heinrich Volkening, der durch gezielte Pfarrbesetzungen und den Ausbau diakonischer Einrichtungen eine nachhaltige Wirkung erzielte.

In dieser Strömung ragt Clamor Huchzermeyer (1809–1899) als einer der einflussreichsten Vertreter hervor. Als Landpfarrer, Superintendent und Mitglied der Provinzial- und Generalsynode prägte er nicht nur seine Heimatgemeinde Schildesche, sondern auch die „Diöcese“ Bielefeld und die preußische Kirchenprovinz Westfalen. Politisch engagierte er sich 1848/49 in der Preußischen Nationalversammlung und blieb der Christlich-Konservativen Partei ebenso treu wie seiner monarchistischen Haltung. In theologischen Fragen vertrat er dagegen die Positionen eines orthodoxen Lutheraners. Sein Wirken zeigt exemplarisch, wie die Erweckungsbewegung kirchliches Leben, Politik und Gesellschaft nachhaltig durchdrang und eine bis heute spürbare Wirkung entfaltet hat.

Auch im 20. Jahrhundert setzten prägende Persönlichkeiten die Linie der kirchlichen Erneuerung fort. Martin Niemöller (1892–1984), zunächst Anhänger des Nationalsozialismus, entwickelte sich im Kirchenkampf zu einem der entschiedensten Gegner des Regimes. Er wurde in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau inhaftiert und engagierte sich nach 1945 für den Wiederaufbau der evangelischen Kirche. Als Präsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und als internationaler Friedensbotschafter wurde er zu einer Symbolfigur des Widerstands und der kirchlichen Erneuerung.

Heinz Zahrnt (1915–2003) führte diese Linie der Erneuerung fort. Als Theologe, Publizist und Redakteur des „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts“ prägte er maßgeblich den Protestantismus der Nachkriegszeit. Mit seinen Vorträgen und Büchern über Gott und den Glauben im modernen Alltag verstand er es, Theologie und gesellschaftliche Existenz ins Gespräch zu bringen. Als streitbarer Vordenker eines zeitgemäßen protestantischen Glaubens trug er entscheidend zum kirchlichen Dialog in Gesellschaft und Politik bei.

Doch sie alle standen in einer längeren Tradition von Persönlichkeiten, die den Umbruch begleiteten und gestalteten: Theodor Fabricius verband Humanismus und Reformation, Melchior Cornäus brachte evangelische Ideen in die ländlichen Regionen, Johannes Schallermann markierte als letzter katholischer Bischof von Minden den Übergang in die neue Zeit, während Johannes Gropper auf den Reichstagen als Vermittler zwischen den Konfessionen wirkte. Auch Balthasar Menz der Ältere, Johannes Pollius, Gerhard von Berg, Johann Affelmann und Hartlevus de Marca hinterließen bleibende Spuren – als Prediger, Kirchenpolitiker oder Organisatoren in einer Epoche tiefgreifender Veränderungen.

Stimmen der Vernunft und der Wissenschaft

In der dunklen Epoche der Hexenprozesse erhoben Friedrich Spee von Langenfeld und Antonius Praetorius ihre Stimmen gegen den Wahn – ein Akt des Mutes, der ihnen einen besonderen Platz in der Kirchengeschichte sicherte. Unter den Jesuiten ragte neben Spee auch der Universalgelehrte Athanasius Kircher hervor.

Westfalen brachte aber auch Denker hervor, die weit über die Region hinauswirkten: Hermann Alexander Roëll in Utrecht, Johann Buxtorf der Ältere als bedeutender Hebraist, und Leopold Zunz, Begründer der Wissenschaft des Judentums, prägten den religiösen Diskurs Europas. Der Jesuit Hermann Busenbaum verfasste mit seiner Medulla theologiae moralis ein Werk von europaweiter Wirkung, während Hermann Jürgens als Rektor des Jesuitenkollegs in Bombay die Bildungstradition weitertrug.

Chronisten und Organisatoren

Nicht nur Theologen, auch Chronisten hielten die kirchliche Entwicklung fest. Johann Moritz Schwager, Johannes Dreyer und Hermann Döring überlieferten wichtige Zeugnisse zur westfälischen Kirchengeschichte. Dietrich Ebbracht, Gottfried de Hegghe und Johannes Rosenthal kommentierten kritisch die Missstände ihrer Zeit. Heinrich Klausing und Daniel Wilhelm Sommerwerck engagierten sich für Sozialhilfe, Bildung und die Modernisierung kirchlicher Strukturen, während Friedrich Deys als Kirchenpolitiker den sozialen Ausgleich förderte.

Paderborn – die Kaderschmiede des Vatikans

Vor allem das Erzbistum Paderborn hat sich in den letzten Jahrzehnten einen besonderen Ruf erworben: als „Kaderschmiede für den Vatikan“. Bereits im Mittelalter zählte Altmann von Passau, einst Schüler und Leiter der Domschule Paderborn, später Bischof und Heiliger, dazu.

In jüngerer Zeit setzt sich diese Tradition eindrucksvoll fort: Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München, gilt als einflussreichster Kleriker Deutschlands. Weitere Paderborner Kardinäle wie Lorenz Jäger, Franz Hengsbach und Johannes Joachim Degenhardt unterstreichen die Linie. Kurienkardinal Paul Josef Cordes wirkte als enger Vertrauter von Papst Benedikt XVI., während Kurienbischof Clemens als Sekretär von Kardinal Ratzinger direkt im Vatikan residierte.

Doch Westfalens Strahlkraft reicht weit über Europa hinaus: Heinrich Backhaus wirkte im 19. Jahrhundert als Missionar in Indien und Australien, Karl Hesse wurde Erzbischof von Papua-Neuguinea, Norbert Strotmann gründete das Bistum Chosica in Peru. Heinrich Vieter etablierte katholische Missionen in Kamerun, Athanasius Klemens Wilhelm Götte wirkte in Afrika, Augustin Henninghaus in China, und Luis Teodorico Stöckler prägte die Diasporakirche in Argentinien.

Münster und andere Zentren

Das Bistum Münster steht Paderborn kaum nach. Clemens August Droste zu Vischering wurde Erzbischof von Köln, Melchior von Diepenbrock Fürstbischof von Breslau. Auch in Essen, Hamburg und anderen Diözesen wirken bis heute Bischöfe mit Münsteraner Wurzeln.

Sozial engagierte Persönlichkeiten und Institutionen 

Westfalen brachte Stimmen hervor, die über kirchliche Strukturen hinaus wirkten: Rulemann Friedrich Eylert als Hofprediger in Preußen, Theodor Lehmus als Dichter geistlicher Lieder und Franz Xavier Nierhoff als Pionier der Sozialarbeit. Wilhelm Emmanuel von Ketteler aus dem westfälischen Adel, später Bischof von Mainz, wurde zum Begründer der katholischen Soziallehre und zu einer Schlüsselfigur für die Entwicklung einer kirchlich getragenen Gesellschaftsethik. Franz Hitze engagierte sich im 19. Jahrhundert für die Arbeiterbewegung und den sozialen Ausgleich und gilt damit als praktischer Vollender jener sozialethischen Impulse.

Friedrich Hengstbach hat als Gründungsdirektor die sozialethische Ausrichtung der Kommende Dortmund nach 1949 entscheidend geprägt und sie als Brücke zwischen Kirche, Wissenschaft und Gesellschaft etabliert. Reinhard Marx führte als Direktor (1989–1996) diese Arbeit fort, stärkte den wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Dialog und setzte neue Akzente in der christlichen Sozialethik sowie der Förderung politischer Bildung.

Das Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen nimmt in der Region eine zentrale Rolle in gesellschaftlichen und ethischen Debatten ein. Es beschäftigt sich mit aktuellen gesellschaftlichen, theologischen, sozialen, ökologischen und politischen Fragestellungen und setzt dabei deutliche Schwerpunkte auf Themen wie Nachhaltigkeit und Menschenrechte. Die Fachbereiche des Instituts umfassen unter anderem Wirtschaft und Soziales, nachhaltige Entwicklung sowie die Männer-, Frauen- und Familienarbeit. Damit prägt das Institut die Diskussionskultur in Westfalen maßgeblich und bringt wichtige Impulse für die gesamte Landeskirche ein.

Der evangelische Pastor und Theologe Friedrich von Bodelschwingh etablierte ab 1872 Bethel bei Bielefeld als soziale Modellstadt für Kranke, Behinderte und Arme. Unter seinem Motto „Arbeit statt Almosen“ und mit Einrichtungen wie Werkstätten und Arbeiterkolonien wurde Bethel zur bedeutenden diakonischen Institution. Sein Sohn führte diese Tradition fort und widerstand aktiv der NS-Euthanasiepolitik

Kritische Theologen und Erneuerer

Auch kritische Geister prägten das theologische Profil Westfalens: Eugen Drewermann aus Paderborn wurde zu einer der einflussreichsten Stimmen im religiösen Diskurs des 20. Jahrhunderts. Als Theologe, Psychotherapeut und Schriftsteller verband er Tiefenpsychologie mit biblischer Auslegung und erreichte mit seinen Predigten, Büchern und Vorträgen ein breites Publikum weit über die Grenzen der Kirche hinaus. Johann Baptist Metz aus Ahaus wirkte als bedeutender Vertreter der politischen Theologie und stellte mit seiner „Neuen Politischen Theologie“ die Frage nach der Leidensgeschichte der Opfer ins Zentrum theologischen Denkens. Willi Marxsen, Walter Schmithals und Ernst Käsemann prägten die evangelische Theologie und Bibelforschung mit scharfsinniger Kritik und wissenschaftlicher Tiefe. Auch Joseph Ratzinger wirkte für einige Jahre als Professor in Münster, wo er sich mit grundlegenden Fragen der Dogmatik und mit einer Erneuerung der Theologie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil auseinandersetzte.

Widerständige Bischöfe

Schließlich traten im 19. Jahrhundert auch Bischöfe hervor, die in offene Konfrontation mit dem preußischen Staat gerieten: Clemens August Droste zu Vischering aus Münster, als Erzbischof von Köln wegen seiner kompromisslosen Haltung im Mischehenstreit verhaftet und zeitweise in Minden interniert, sowie Konrad Martin, Bischof von Paderborn, der im Kulturkampf zum unbeugsamen Verteidiger kirchlicher Freiheit wurde. Beide waren kritische Geister ihrer Zeit – nicht gegenüber der Kirche, sondern gegenüber staatlicher Bevormundung – und wurden zu Symbolfiguren katholischer Beharrlichkeit in politisch schwierigen Zeiten.

Ein geistliches Vermächtnis

Die Geschichte Westfalens zeigt: Religiosität und theologisches Denken haben diese Region über Jahrhunderte geprägt. Von den frühen Klostergründern wie dem Karolinger Adalhard, über mittelalterliche Bischöfe wie Konrad VII. von Soest, Heinrich II. von Bocholt oder Gottfried von Arnsberg, bis zu den Reformationstheologen, Missionaren und modernen Kirchenlehrern zieht sich ein roter Faden geistlicher Bedeutsamkeit. Selbst Frauen spielten eine wichtige Rolle – die Äbtissinnen des Frauenstifts Herford, allen voran Elisabeth von der Pfalz mit ihrem intellektuellen Austausch mit René Descartes, belegen dies eindrucksvoll.

„Von Hamburg bis München alles in westfälischer Hand“ – diese scherzhafte Bemerkung enthält einen wahren Kern. Westfalen hat die kirchliche Landschaft Deutschlands und darüber hinaus nachhaltig geprägt. Es ist eine Region, die nicht nur Glauben praktizierte, sondern ihn auch reflektierte, reformierte und in die Welt hinaustrug – eine geistliche Kaderschmiede im besten Sinne des Wortes.

Von Rolevinck

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