Von Ralf Keuper
Obwohl das Land Nordrhein-Westfalen in diesen Tagen seinen 70. Geburtstag begeht, will in der Öffentlichkeit bzw. in den Medien keine rechte Feierlaune aufkommen. Grund dafür ist vor allem der unbefriedigende Zustand der Wirtschaft in NRW. In den letzten Jahren tauchten immer wieder Berichte auf, die sich kritisch mit den verschiedenen Kennzahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung in NRW beschäftigten. Momentan kommt es nach meinem Eindruck zu einer Häufung.
Bremsklotz NRW
Stellvertretend für viele brachte die Welt vor einigen Tagen in dem Beitrag Nordrhein-Westfalen ist Deutschlands Bremsklotz ihre Kritik zum Ausdruck. Darin bezichtigt der Autor das Land NRW, ganz Deutschland mit in die Tiefe zu ziehen. Für viele Kritiker, wie die Forscher vom Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsforschungsinstitut (RWI), sind die aktuellen Probleme nicht allein auf den Strukturwandel, für den insbesondere das Ruhrgebiet steht, verantwortlich, sondern hausgemacht:
Doch das, sagen Fachleute, ist nicht einmal die halbe Wahrheit. “Die aus der Vergangenheit tradierten Industriestrukturen allein können wohl kaum als alleinige Erklärung für diese schlechten Entwicklungen herangezogen werden”, heißt es beim RWI. Vor allem in den vergangenen Jahren habe sich die Talfahrt beschleunigt. “Für das Nullwachstum im Lande sind vor allem hausgemachte Fehler und Probleme verantwortlich”, wirft Axel Martens, der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Lippe, der Landesregierung vor.
Ein schlechtes Zeugnis stellen die Forscher vom RWI der Forschungspolitik der Landesregierung aus:
Bei der Forschungsförderung verzettele sich das Land, hält Paul Welfens der Politik vor. Die benachbarten Niederlande, etwa gleich groß wie NRW, pflegten eine auf neun Sektoren fokussierte, weltmarktorientierte Innovationspolitik, während die Düsseldorfer Landesregierung mit 16 als “Cluster” geförderten Sektoren wenig effizient breit streue. Dazu kommen Verwaltungsmängel. Als die Bundesregierung im vergangenen Jahr 2,7 Milliarden Euro für Fernstraßenprojekte lockermachte, landeten nur 128 Millionen davon in NRW. Die Landesbehörden hatten schlicht zu wenig baureife Projekte ausgearbeitet. Den Löwenanteil sahnte Bayern mit 621 Millionen Euro ab.
Was die Förderung von Straßenprojekten betrifft, hat NRW wieder Boden gut gemacht. So erhält NRW den Löwenanteil der Ausgaben des Bundes für den Bau von Straßen, Schienen und Wasserwegen.
Weitere Ursachenanalyse betreibt der Beitrag Warum die Wirtschaft in NRW so schwach ist. Auch darin kommt das RWI zu Wort:
Die Investitionsquote in NRW ist Analysen des RWI zufolge im Vergleich mit anderen Bundesländern gering. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung seien in Bayern fast doppelt so hoch wie in NRW, in Baden-Württemberg fast drei Mal so hoch. Auch IW-Experte Kempermann bemängelt: „Vielerorts in NRW fehlt es an Innovationskraft. Darauf weisen schwache Werte bei Themen wie Forschung und Entwicklung und Patentanmeldungen hin.“
Problemfall Ruhrgebiet
Für die schlechte wirtschaftliche Entwicklung in NRW wird von fast allen Kommentatoren das Ruhrgebiet verantwortlich gemacht. Der Strukturwandel verläuft zu schleppend, das Kirchturmdenken, gepaart mit einer Anspruchshaltung, die über die Jahrzehnte – auch von der Politik – gefördert bzw. aus machtpolitischem Kalkül genutzt wurde – hat zu einer, wie u.a. Bundestagspräsident Lammert bemerkt, Lebenslüge geführt. Die Dortmunder Wissenschaftlerin Juli Sattler setzte mit der Feststellung Dem Revier geht’s schlecht? Nicht im Vergleich mit Detroit noch eins drauf. Von einer Lebenslüge des Landes NRW handelt das Streitgespräch zwischen dem Politologen Rainer Bovermann (SPD) und dem Historiker Frank Uekötter.
Bovermann sagt darin mit Blick auf die verschiedenen Phasen der Landespolitik der letzten Jahrzehnte:
Ich würde noch eine weitere Zeit abgrenzen. Die Ära Johannes Rau von 1978 bis 1998. Für Sozialdemokraten eine heile Welt, in der das Landesbewusstsein unter dem Motto “Wir in NRW” doch stärker wurde. Gleichzeitig meinte man, die Krise von Kohle und Stahl im Ruhrgebiet durch politische Planung und Steuerung irgendwie gestalten zu können. Seit etwa 2005 sehe ich eine neue Phase der Landesgeschichte, ein Umbruch mit neuen Problemen in der Wirtschafts- und Integrationspolitik.
Frank Uekötter spricht die Lebenslüge des Landes NRW direkt an, die sich aus einem Glauben an Großprojekte herleitete:
Es gibt eine Lebenslüge des Landes Nordrhein-Westfalen. Das war der Irrglaube, dass NRW ohne Steinkohle der ökonomische Niedergang droht. Und dieser Glaube an Großprojekte endete leider nicht mit der Steinkohle. Vor allem die Ministerpräsidenten Clement und Steinbrück haben das bei anderen Themen wie Metrorapid von Köln nach Dortmund oder Emscherumbau fortgesetzt.
Die Wirtschaftswoche zitiert in Strukturwandel. Licht und Schatten im Ruhrgebiet den Wirtschaftsforscher Michael Bahrke:
Startprobleme beim technologischen Wandel, zu viel Kirchturmdenken und Selbstbefassung und eine gewisse Versorgungsmentalität und Konzentration auf die großen industriellen Arbeitgeber – das werfen Kritiker wie der Wirtschaftsforscher Michael Bahrke vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) der Region bis heute vor. Das Ruhrgebiet verpasse bisher die große Chance, die inzwischen zahlreichen Hochschulen der Region, Forschungseinrichtungen und die vielen jungen Leute in der 5,3 Millionen-Einwohner-Region miteinander zu vernetzen, sagt er.
Weitere Beiträge über die Situation im Ruhrgebiet:
- Ruhrgebiet, das Sorgenkind in Deutschland
- Ruhrgebiet: Arbeitslosigkeit, Armut und Tristesse
- Der Aufschwung kommt nicht an: Armutsregion Ruhrgebiet
Krise der Stromkonzerne trifft das Ruhrgebiet besonders hart
Nicht alle Probleme kann man jedoch den Verantwortlichen im Ruhrgebiet bzw. der Kommunalpolitik anlasten, wie am Beispiel der Krise der Stromkonzerne deutlich wird, wodurch die Gewerbesteuereinnahmen sinken und, wie im Fall von Essen, sogar einen erheblichen Wertberichtigungsbedarf auf den Aktienanteil an RWE zur Folge hat.
Lichtblicke im Ruhrgebiet
Dennoch gibt es auch Positives aus dem Ruhrgebiet zu berichten. So stellte die Welt, die dem Land bzw. der Landesregierung von NRW ansonsten ausgesprochen kritisch gegenüber steht, vor gut einem Jahr fest, dass das Ruhrgebiet sein Schmuddel-Image ablege. Auf Rekord- bzw. Wachstumskurs befindet sich der Logistikmarkt im Ruhrgebiet. In Bochum plant die Post auf dem ehemaligen Opel-Gelände ein Paketzentrum.
Die Peripherie schneidet deutlich besser ab als das Zentrum
In NRW haben wir es, im Vergleich mit den anderen Bundesländern, mit der einmaligen Situation zu tun, dass die Peripherie deutlich besser abschneidet als das Zentrum, wenn wir das Ruhrgebiet als das Zentrum des Landes betrachten, was nicht nur geografisch den Tatsachen entspricht, sondern auch von der Bevölkerungszahl her durchaus Sinn ergibt. Den “Randregionen” wie Südwestfalen, Ostwestfalen und dem Münsterland, aber auch der “Rheinschiene” scheint es nicht schlecht bekommen zu sein, nicht im selben Umfang mit Fördergeldern und Subventionen bedacht worden zu sein, wie das Ruhrgebiet. Die Landesregierung zeigt sich davon jedoch weitgehend unbeeindruckt, wie der Metropolen-Ansatz zeigt.
Das Zentrum-Peripherie Phänomen wurde übrigens von Niklas Luhmann in seiner Zentrum/Peripherie-Differenzierung thematisiert. Eine These daraus lautet:
Distanz vom Zentrum zählt als Nachteil aber nur, solange man nicht von Interaktion auf Kommunikation umsteigen kann.
Egon Friedell sprach von der Schöpferischen Peripherie.
Die Kraft der Peripherie reicht jedoch nicht aus, um das Zentrum anheben zu können – das ist im vorliegenden Fall das Dilemma.
NRW trotz allem noch Spitze
Trotz der genannten Defizite kann NRW mit einigen Pluspunkten aufwarten. So wurde NRW vor einigen Monaten zur European Region of the Future 2016/2017 gekürt. Und auch bei den ausländischen Direktinvestitionen liegt NRW in Deutschland seit Jahren einsam an der Spitze. So schlecht kann der Standort demnach nicht sein.
Weitere Pluspunkte in NRW sind das ausgesprochen dichte Netz an Universitäten, Hochschulen und Forschungseinrichtungen, das in dieser Ausprägung in Deutschland einmalig ist. Das führt allerdings auch zu der Frage, warum davon so wenig in der “realen” Wirtschaft ankommt. Weiterhin hervorzuheben ist die, alles in allem, gute Verkehrsinfrastruktur mit den großen Flughäfen Düsseldorf, und Köln/Bonn sowie den Regionalflughäfen Münster, Dortmund und Paderborn.
NRW kann deutlich mehr
Festzuhalten bleibt, dass das Land NRW derzeit weit unter seinem Potenzial verweilt.
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