Von mittelalterlichen Gelehrten bis zu modernen Astrophysikern: Westfalen hat der Astronomie über die Jahrhunderte hinweg außergewöhnliche Impulse gegeben. Eine Region zwischen Tradition und Weltraumforschung.


Wenn man durch Westfalen reist, mag man zunächst nicht vermuten, dass diese Region eine der bedeutendsten Wiegen der deutschen Astronomie ist. Doch blickt man genauer hin, offenbart sich eine faszinierende Geschichte voller wissenschaftlicher Pioniere, die den Blick der Menschheit zu den Sternen gelenkt und unser Verständnis des Universums revolutioniert haben.

Pioniere der Präzision

Der wohl bekannteste Name in diesem illustren Kreis ist Friedrich-Wilhelm Bessel, dessen astronomischer Triumph die erste erfolgreiche Parallelaxenmessung zur Entfernungsmessung eines Fixsterns war. Diese bahnbrechende Leistung öffnete der Menschheit erstmals ein Fenster zu den wahren Dimensionen des Kosmos. Bessels Vermächtnis lebt nicht nur in den nach ihm benannten Besselschen Elementen fort, sondern auch in einem Mondkrater und einem Asteroiden, die seinen Namen tragen – eine kosmische Ehrung für einen Mann, der das Universum vermessen hat.

Doch Bessel steht nicht allein. Walter Baade gilt als einer der bedeutendsten Astrophysiker des 20. Jahrhunderts und prägte mit seinen Forschungen unser modernes Verständnis der Sterne. Friedrich Simon Archenhold wiederum demokratisierte die Astronomie, als er mit der „Archenhold-Sternwarte“ die erste deutsche Volkssternwarte gründete – ein Meilenstein in der Popularisierung der Himmelskunde.

Mittelalterliche Meister und Renaissance-Riesen

Bereits in früheren Epochen ragten westfälische Gelehrte heraus. David Gans, weniger bekannt als seine Zeitgenossen, aber für seine Zeit außergewöhnlich vielseitig begabt, stand in direktem Kontakt mit den Giganten seiner Zeit: Tycho Brahe und Johannes Kepler. Diese persönlichen Begegnungen und der rege wissenschaftliche Austausch zeugen von einem lebendigen Netzwerk astronomischen Wissens, das sich von Westfalen aus über ganz Europa spannte.

Simon VI. zur Lippe führte ebenfalls Korrespondenz mit Tycho Brahe sowie mit dem Uhrmacher und Mathematiker Jost Bürgi, während aus der Zeit des Mittelalters Tilemann Stella und Caspar Vopelius hervorragen – Zeugen einer langen Tradition westfälischer Himmelskunde, die bis in die Antike zurückreicht.

Moderne Weltraumwissenschaft

Die westfälische Astronomietradition ist keineswegs Geschichte. Frank Stadermann etablierte sich als herausragender Weltraumwissenschaftler, der zuletzt an der Washington University in den USA lehrte. Er gilt als Wegbereiter für die Erforschung kosmischer Materie, insbesondere durch seine Pionierarbeit in der NanoSIMS-Analyse und durch zahlreiche innovative Beiträge zur Meteoriten-, Kometen- und Staubforschung.

Ludwig Biermann, 1907 in Hamm geboren, verkörpert exemplarisch die westfälische Tradition wissenschaftlicher Exzellenz. Nach dem Abitur am Gymnasium Hammonense in Hamm führte ihn sein Studium der Mathematik und Physik über Hannover, München und Freiburg schließlich nach Göttingen, wo er promovierte. Biermanns wissenschaftlicher Durchbruch kam Anfang der 1950er Jahre, als er sich mit der Physik der Sonnenatmosphäre beschäftigte und in Zusammenhang mit Kometenbeobachtungen als erster erkannte, dass von der Sonne ein ständiger Teilchenstrom emittiert wird. Diese Entdeckung des „Sonnenwindes“ war ihrer Zeit weit voraus – erst rund zehn Jahre später, im Oktober 1962, konnte die Raumsonde Mariner 2 diese Vorhersage bestätigen.

Die Bayerische Akademie der Wissenschaften würdigte in ihrem Nachruf Biermanns „einzigartige Fähigkeit, Erkenntnisse anscheinend weitauseinanderliegender Wissenschaftsgebiete auf ihren neuesten Stande aufeinander zu beziehen“. Seine bahnbrechenden Arbeiten über Kometen, Magnetfelder und den Sonnenwind brachten ihm internationale Anerkennung ein: 1967 erhielt er die Catherine-Wolfe-Bruce-Goldmedaille der Astronomical Society of the Pacific und 1974 die Goldmedaille der Royal Astronomical Society London. Als charismatische Figur der deutschen Nachkriegsastrophysik war Biermann nicht nur ein herausragender Forscher, sondern auch ein visionärer Wissenschaftsorganisator, der durch seine Gremienarbeit mehrere Max-Planck-Institute mitbegründete. Sein Vermächtnis lebt im jährlich verliehenen Ludwig-Biermann-Förderpreis der Astronomischen Gesellschaft fort, mit dem herausragende Nachwuchsastronomen ausgezeichnet werden.

Besonders bemerkenswert ist die aktuelle Forschung der Ruhr-Universität Bochum: Ihre Astrophysiker erregen mit ihren Quasar-Forschungen internationale Aufmerksamkeit. Die Universität betreibt in Chile sogar die einzige Sternwarte der Welt, die mit regenerativer Energie arbeitet – ein Symbol für die Verbindung von Tradition und Nachhaltigkeit in der modernen Astronomie.

Weitere bedeutende Namen wie Eduard Heis, der wegen seiner Verdienste in die Royal Astronomical Society in London aufgenommen wurde, Carl Bremiker als Entdecker des Kometen C/1840 U1, und Heinrich Kreutz, nach dem die Kreutz-Gruppe benannt wurde, zeugen von der anhaltenden westfälischen Präsenz in der internationalen Astronomie.

Astronomie für alle

Westfalen hat die Demokratisierung der Astronomie nie aus den Augen verloren. In Recklinghausen steht die Westfälische Volkssternwarte, während die beliebten Planetarien in Münster und Bochum regelmäßig Besucher in die Geheimnisse des Kosmos einweihen. Weitere Volkssternwarten in Paderborn, Hagen, Ennepetal, Herne und Dortmund sorgen dafür, dass astronomisches Wissen nicht im Elfenbeinturm verbleibt, sondern allen zugänglich wird.

Blick in die Zukunft

Die westfälische Astronomietradition setzt sich bis heute fort: Forscher aus Bielefeld und Bonn planen das weltweit größte Radioteleskop namens SKA, während Siegener Physiker kosmische Strahlung erforschen und Millionenförderungen für ihre Astroteilchen- und Geophysikforschung erhalten. Namen wie Sophie Aerdker, deren „Labor der Weltraum“ ist, oder Julia Tjus, die neu im Vorstand der Astronomischen Gesellschaft ist, stehen für eine neue Generation westfälischer Weltraumforscher.

Westfalen erweist sich somit als eine Region, die über Jahrhunderte hinweg den Blick zum Himmel gerichtet und dabei sowohl die Grundlagen als auch die Grenzen der Astronomie erweitert hat. Von mittelalterlichen Armillarsphären bis zu modernen Radioteleskopen, von der ersten Sternenvermessung bis zur Erforschung ferner Galaxien – diese Region schreibt weiterhin Astronomiegeschichte und bleibt dabei ihren Wurzeln treu: der Neugier auf das Universum und dem Wunsch, dessen Geheimnisse mit der Welt zu teilen.

Von Rolevinck

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