Von Ralf Keuper
Den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, ist in fast allen Lebensbereichen eine wesentliche Bedingung für den Erfolg. Eine Innovation, die ihrer Zeit zu weit voraus ist, die Gründung eines Unternehmens, das einen Bedarf bedienen will, der nur von wenigen potenziellen Kunden als solcher empfunden wird, sind Beispiele dafür, dass nicht jede auf den ersten Blick erfolgversprechende Idee sich auch tatsächlich am Markt durchsetzt. Andererseits gilt jedoch auch, dass manche Gelegenheiten, wenn überhaupt, so schnell nicht wiederkehren. Wer die Gelegenheit nicht am Schopf fasst, ist womöglich für immer aus dem Spiel. Es kommt also darauf an, das richtige Timing zu finden. Leichter gesagt als getan; noch dazu, wenn man sich in verschiedenen Rollen bewegt, wie als Unternehmer, Wissenschaftler, Politikberater und Musiker. Von diesem Spagat mit all seinen Herausforderungen berichtet der Informatikpionier und Gründer der IDS Scheer AG, August-Wilhelm Scheer, in seinem Buch Timing – zum richtigen Umgang mit der Zeit. Erfahrungen und Empfehlungen von August-Wilhelm Scheer.
Der Lebens- und Berufsweg von August-Wilhelm Scheer, geboren 1941 in Lübbecke (Ostwestfalen), ähnelte zunächst dem eines Wissenschaftlers, der sich einen eigenen Namen machen will. Mit verschiedenen Veröffentlichungen sowie mit der Gründung des Instituts für Wirtschaftsinformatik an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken legte er, wie sich später herausstellen sollte, den Grundstein für seine Laufbahn als Unternehmer und Politikberater. Zusammen mit seinem damaligen Geschäftspartner, Alexander Pocsay, gründete Scheer im Jahr 1984 die “Integrierte Datenverarbeitungssysteme (IDS) Prof. Scheer GmbH”. In den darauffolgenden Jahren wurde Scheer als “CIM-Papst” einem breiteren Publikum in Deutschland bekannt. Das erste Softwareprodukt aus dem Haus IDS Scheer war der Fertigungsleitstand FI-2. Hervorgegangen war das Produkt aus einem Forschungsprojekt, an dem auch das von Scheer geleitete Institut für Wirtschaftsinformatik beteiligt war. Als das mit der Umsetzung beauftragte Softwarehaus aus dem Projekt ausstieg, sprang die IDS Scheer als Entwickler ein. Diese Gelegenheit wollte man sich bei IDS Scheer nicht entgehen lassen, da man davon überzeugt war, dass an der Vernetzung in der Produktion, die bis dahin von Fertigungsinseln gekennzeichnet war, kein Weg vorbei führte. Das Produkt weckte das Interesse von Hasso Plattner, einem der SAP-Gründer, mit dem August-Wilhelm Scheer als Aufsichtsrat der SAP AG zu dem Zeitpunkt bereits in engem Kontakt stand. SAP sah in dem Produkt FI-2 und seiner Architektur aus Workstation, UNIX und Oracle-Datenbank die Möglichkeit, eine Softwaregeneration R3 für mittelständische Unternehmen zu entwickeln. Bis dahin lief SAP auf Großrechnern von IBM und Siemens. Um die Leistungsdefizite der proprietären Architektur des IBM-Systems AS400 zu umgehen, liebäugelte man bei SAP mit der offenen Architektur und den eingesetzten Standards bei FI-2. Die Überlegungen mündeten in einer Kooperation zwischen SAP und IDS Scheer. Zusammen entwickelte man das Produkt DASS (Dezentrales Auftragssteuerungssystem), “das erste Softwareprodukt der SAP in einer offenen Architektur, die später Grundlage des R3-Systems wurde, das den Welterfolg der SAP begründete“.
Obwohl Scheer mit CIM und FI-2 seiner Zeit zu weit voraus war, legte er damit den Grundstein für die weitere Zusammenarbeit mit SAP. Den eigentlichen Durchbruch als Unternehmer erzielte Scheer mit dem ARIS-Konzept, dessen theoretische Grundlagen er bereits in seinem Buch “Architektur integrierter Informationssysteme (ARIS)” formuliert hatte. Mit dem ARIS-Toolset, das die grafische Beschreibung der Unternehmensprozesse ermöglichte, erwischte Scheer diesmal den richtigen Zeitpunkt, “da die IT immer teurer und nach ihrem organisatorischen Nutzen gefragt wurde. ARIS unterstützte die Einführung von ERP-Systemen, die gerade zu ihrem Siegeszug antraten“. Größter Anwender von ARIS wurde die SAP.
Später musste Scheer noch mehrmals das richtige Timing finden, wie beim Börsengang der IDS Scheer AG und der internationalen Expansion, ebenso wie beim Verkauf der IDS Scheer AG an die Software AG sowie beim Rückkauf des Beratungsgeschäfts einige Jahre später.
Als Bitkom-Präsident war es das vordringlichste Ziel von Scheer, die Bedeutung der Informations- und Kommunikationswirtschaft für den Wirtschaftsstandort Deutschland stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Seine Forderung nach einem Internet-Staatsminister wurde von Bundeskanzlerin Angela Merkel höflich ignoriert; die Einführung eines Bundes-CIO im Range eines Staatssekretärs wertet Scheer zumindest als Teilerfolg.
Noch immer ist die deutsche Industrie laut Scheer zu stark “Blech-orientiert”. Die zunehmende Bedeutung der Software gegenüber der Mechanik sei daher für die Industrie eine besondere Herausforderung, da dies einen “Kulturwandel in Ausbildung, Einstellungspolitik und Bewertung der Skills von Managern” erfordere, wie er der deutschen Automobilindustrie von Elon Musk vorgeführt werde. Anders als vielfach noch angenommen liege der Schwerpunkt dabei nicht auf der Elektromobilität, sondern auf der konsequenten “Neugestaltung aller Prozesse des Autos und die Erkenntnis, dass ein Auto ein Gerät (Device) des Internets ist“.
Die Forschungspolitik in Deutschland findet bei Scheer nur bedingten Zuspruch. Zwar verfügt Deutschland mit der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz- und der Leibniz-Gemeinschaft über eine gute Forschungsinfrastruktur; mehr als Prototypen kommen dabei jedoch nicht heraus. Scheer schreibt dazu: “Ein Prototyp ist aber nicht stabil und enthält nicht den für praktische Zwecke erforderlichen Funktionsumfang. Es gibt kein Marketing und keine Vertriebsorganisation, kurz, ein Prototpy ist kein verkaufsfähiges Produkt“. Allerdings liegt die Schuld nicht nur bei den Forschungsinstituten; das Interesse der deutschen Wirtschaft Neuerungen gegenüber, die vom Gewohnten abweichen, ist gering, wie das Beispiel MP3 zeige. “Die Erfindung aus einem Forschungsinstitut der Fraunhofer-Gesellschaft in Erlangen wurde mehreren deutschen Unternehmen angeboten, die aber kein Interesse an einer Produktentwicklung zeigten, sodass sie schließlich im Ausland erfolgte“. Um es jedoch nicht nur bei der Kritik zu belassen, hat Scheer sein eigenes Forschungsinstitut, das August-Wilhelm Scheer Institut, gegründet und finanziert. Dessen Forschungsansatz ist interdisziplinär. Momentan arbeiten am AWSi mehr als 100 Forscher aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen zusammen.
Überdies hat sich Scheer an mehreren Startups beteiligt. Das von ihm separat gegründete Unternehmen IMC AG ist einer der führenden Anbieter von Lernsoftware.
Als Jazz-Musiker und Saxophonist ist Scheer gewohnt, spontan auf Änderungen der Melodie und des Rhythmus zu reagieren, um nicht aus dem Takt zu geraten; eine Erfahrung, die ihm bei der Ausübung seiner anderen Rollen zugute gekommen ist.
Wer sich für die Geschichte der Informationstechnik in Deutschland der letzten vierzig Jahre interessiert und dabei noch aus diesem Blickwinkel einen Eindruck von der Gegenwart und der näheren Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland gewinnen möchte, für die oder den liefert das Buch von August-Wilhelm Scheer zahlreiche Impulse. Inwieweit sich die Empfehlungen für die eigene Lebensführung wie auch die konkrete Lebenssituation berücksichtigen lassen, liegt im Ermessen jedes Einzelnen. Ob das Timing richtig oder falsch war, stellt sich meistens leider erst im Nachhinein voraus. Wer sich jedoch intensiv mit einem Thema beschäftigt, wie Scheer seinerzeit zunächst mit seinen Büchern, verbessert seine Chancen, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Und das macht häufig den Unterschied.
Zuerst erschienen auf Bankstil