Westfalen blickt auf eine beeindruckende Tradition in den Geowissenschaften zurück, die von bedeutenden Persönlichkeiten geprägt wurde und bis heute in vielfältiger Form fortbesteht. Diese Region hat nicht nur hervortretende Fachleute hervorgebracht, sondern auch institutionelle Strukturen geschaffen, die Geologie und Paläontologie nachhaltig fördern.
Unter den Pionieren der westfälischen Geowissenschaften ragt Georg Graf zu Münster heraus, dessen Einfluss und wissenschaftliche Autorität ihn zum wirkungsmächtigsten Paläontologen Westfalens macht. Obwohl er den größten Teil seines Lebens in Bayreuth verbrachte, wird seinem Erbe auch heute noch in seiner Heimatregion gedacht. Eng mit dieser Geschichte verbunden ist der Name Nicolaus Steno, der von Alexander von Humboldt als „Vater der Geologie“ geehrt wurde. Seine Zeit als Weihbischof in Münster zeigt, wie eng Wissenschaft und Kirche in dieser Epoche verbunden waren. Der Paläontologe Stephen Jay Gould würdigte Stenos grundlegende Leistung mit den Worten, dass dieser „die Welt in der einfachsten, jedoch grundlegendsten Weise verändert“ habe, indem er „ihre Gegenstände anders klassifiziert“ habe. Diese Transformation des wissenschaftlichen Denkens sollte weitreichende Konsequenzen für die gesamte Naturwissenschaft haben.
Die Kontinuität dieser Tradition zeigte sich in nachfolgenden Generationen von Forschern. Bereits im 19. Jahrhundert trug Clemens August Schlüter als bedeutender westfälischer Naturforscher maßgeblich zur Katalogisierung regionaler Fossilienfunde bei. Seine Arbeit gilt als frühes Bindeglied zwischen Lokalforschung und den jungen geowissenschaftlichen Disziplinen des Kaiserreichs. Anton Wilhelm Stephan Arndts etablierte sich als einer der frühen Wegbereiter der erdgeschichtlichen Forschung in Westfalen; seine akribischen Geländeuntersuchungen und Fossilienkartierungen trugen wesentlich zur Dokumentation der devonischen Schichten im Raum Paderborn-Warburg bei. Hermann Vogelsang erwarb sich große Verdienste um die mineralogische und geologische Mikroskopie, während Max Blanckenhorn als renommierter Geologe bedeutende Beiträge zur Fachdisziplin leistete. Im 20. Jahrhundert verkörperte Günter Saßmannshausen eine bemerkenswerte Vereinigung von wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Kompetenz: Als Chef der Preussag AG war er über Jahrzehnte nicht nur Geologe, sondern auch einer der einflussreichsten Manager Deutschlands.
Die gegenwärtige Forscher-Generation setzt diese Tradition mit großem Engagement fort. Professor Addi Bischoff von der Universität Münster steht für innovative Forschung zur Entwicklung des frühen Sonnensystems, wobei er durch die Analyse von Meteoriten und Mikrostrukturen in Gesteinen fundamentale Fragen der planetaren Entstehung verfolgt. Dieter Korn, als Paläontologe und Spezialist für Ammoniten an der Freien Universität Berlin tätig, verbindet detailreiche Systematik mit einem Gespür für erdgeschichtliche Zusammenhänge und zählt zu den führenden Kennern der marinen Lebenswelten des Mesozoikums. Die Vertreter wie Olaf Otto Dillmann und Josef Daldrup beweisen ebenfalls, dass dieses wissenschaftliche Erbe lebendig und produktiv bleibt. Mit Dr. Schleicher verlor die regionale geowissenschaftliche Forschung vor einigen Jahren eine prägende Persönlichkeit, deren Studien zur Paläontologie und Stratigraphie wissenschaftliche Genauigkeit mit menschlicher Integrität und pädagogischem Engagement verbanden.
Besonders bemerkenswert ist die Rolle der sogenannten „Laien“ in der westfälischen Geowissenschaft. Ihre Aktivität und Engagement zeigen, dass geologische und paläontologische Forschung nicht allein den Professionellen vorbehalten ist. Karl Stekiel etwa entdeckte 2011 einen neuen Raubsaurier, während Sönke Simonsen das Glück hatte, eine 185 Millionen Jahre alte Paddelechse zu identifizieren. Diese Funde unterstreichen, wie wichtig das Zusammenwirken von Profis und interessierten Amateuren für die wissenschaftliche Arbeit ist.
Jüngere Funde demonstrieren die anhaltende paläontologische Fruchtbarkeit der westfälischen Erdschichten. Eine besonders spektakuläre Entdeckung geht auf das Jahr 1895 zurück, als im Kreis Coesfeld der bis heute größte Ammonit der Welt ausgegraben wurde. Dieses außergewöhnliche Fossil trägt den offiziellen Namen Parapuzosia seppenradensis nach seinem Fundort Seppenrade und stellt einen wissenschaftlichen Schatz von welthistorischer Bedeutung dar. In jüngerer Zeit gefundene Knochenreste in der Nähe von Warburg entpuppten sich als Teile eines seltenen Ichthyosauriers aus der Zeit des frühen Jura, welche unser Bild der damaligen Meeresfauna Nordwestdeutschlands erweitert. Ein Paläontologe der Universität Bielefeld beschrieb anhand sorgfältiger Präparation eine bislang unbekannte Meeressaurier-Art und zeigt damit, dass selbst lange bekannte Fundschichten noch wissenschaftliche Überraschungen bergen. Ein außergewöhnlich gut erhaltenes Ichthyosaurier-Fossil aus Bielefeld wird derzeit im LWL-Museum für Naturkunde in Münster untersucht und bietet einzigartige Einblicke in Anatomie und Lebensweise dieser urzeitlichen Meeresreptilien.
Forschungsprojekte führen Geowissenschaftlerinnen und Geowissenschaftler auf echte Zeitreisen in das Devon, wo sie in den Sedimenten Westfalens Überreste urtümlicher Meeresbewohner – stille Zeugen einer längst verschwundenen Umwelt – entdecken. Die internationale Anerkennung dieser Arbeiten zeigt sich darin, dass Fossilien aus Westfalen in der Ausstellung des American Museum of Natural History in New York zu sehen sind und eindrücklich die weltweite Bedeutung der hiesigen Paläontologie belegen.
Die institutionelle Infrastruktur Westfalens für die Geowissenschaften ist umfassend und vielfältig. Das Geomuseum Münster nimmt dabei einen besonderen Rang ein und fungiert als wichtiges Zentrum für Vermittlung und Forschung. Auf akademischer Ebene bilden das Institut für Geologie, Mineralogie und Geophysik der Ruhr-Universität Bochum und das Institut für Geologie und Paläontologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster die führenden Forschungsstätten. Im Bereich des Geoingenieurwesens hat sich die Technische Fachhochschule Georg Agricola in Bochum als erste Adresse etabliert.
Darüber hinaus bietet die Region vielfältige Möglichkeiten zur öffentlichen Vermittlung von Geowissenschaften. Der Geologische Garten in Bochum fungiert als Attraktion für Interessierte, während das Museum für Naturkunde in Dortmund mit paläontologischen, mineralogischen und geologischen Sammlungen aufwartet. Das Museum Zurholt in Altenberge hat sich ganz der Geologie, Paläontologie und Mineralogie verschrieben. Eine der größten geologischen Sammlungen Deutschlands befindet sich im neuen Museum für Ur- und Ortsgeschichte Bottrop, das damit überregionale Bedeutung gewonnen hat.
Die Tradition des wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Austauschs wird durch regelmäßige Veranstaltungen lebendig gehalten. Die jährlich in den Dortmunder Westfalenhallen stattfindenden Mineralientage Dortmund sind zu einem festen Termin im Veranstaltungskalender geworden. Darüber hinaus kann die Westfälische Mineralienbörse Münster auf eine lange Tradition zurückblicken und bewährt sich bis heute als Plattform für Sammler und Fachleute.
Westfalen erweist sich somit nicht nur als historischer Schauplatz bedeutender geowissenschaftlicher Entwicklungen, sondern auch als dynamische Region, in der Forschung, Bildung und öffentliche Vermittlung in gelungener Weise zusammenwirken.
Die Verbindung von historischen Leistungen, gegenwärtiger Forschung und engagierter Vermittlung macht die Region zu einem vitalen Zentrum der Geowissenschaften im deutschsprachigen Raum.
