Während andere deutsche Städte mit Global Playern und Hidden Champions glänzen, bleibt Münster wirtschaftlich merkwürdig farblos. Ein Blick auf die jahrhundertealten Strukturen einer Stadt, die trotz bester Voraussetzungen nie unternehmerische Weltklasse entwickelte.


Es ist ein bemerkenswertes Phänomen: Münster, die westfälische Universitäts- und Verwaltungsmetropole mit über 300.000 Einwohnern, hat in ihrer jahrhundertelangen Geschichte kein einziges Unternehmen von internationaler Strahlkraft hervorgebracht. Während vergleichbare Städte wie Bonn mit Telekom und Post, Mainz mit BionTech und Schott oder Göttingen mit Sartorius regelmäßig durch ihre Weltkonzerne in die Schlagzeilen geraten, bleibt Münster wirtschaftlich erstaunlich unsichtbar.

Diese Beobachtung ist keineswegs neu oder vorübergehend. Sie beschreibt ein strukturelles Charakteristikum, das sich durch die gesamte Stadtgeschichte zieht und bis heute nachwirkt. Münster war schon im 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung Deutschland erfasste, anders geprägt als seine Nachbarstädte. Während sich überall im Land Industriekerne bildeten und Unternehmer zu Pionieren des Fortschritts wurden, blieb Münster seiner Rolle als Verwaltungs-, Justiz- und Bildungszentrum treu.

Die Dominanz des öffentlichen Sektors

Ein Blick auf die größten Arbeitgeber der Stadt macht das Strukturproblem deutlich: Universität, Fachhochschule, Universitätsklinikum, Bezirksregierung, Landgericht, LWL – die Liste liest sich wie ein Verzeichnis öffentlicher Einrichtungen. Der größte private Arbeitgeber, die Versicherung LVM, ist ein regionaler Dienstleister ohne internationale Ausstrahlung. Die privatwirtschaftliche Landschaft besteht überwiegend aus Mittelständlern, die regional tätig sind, aber keine globalen Ambitionen entwickelt haben.

Diese Wirtschaftsstruktur ist von einer Monostruktur geprägt, die ihre Wurzeln im öffentlichen Sektor und in staatsnahen Dienstleistungen hat. Eine solche geringe Diversität schränkt die wirtschaftliche Resilienz der Stadt erheblich ein. Während resiliente Wirtschaftsräume auf verschiedene Branchen, Unternehmensgrößen und Wertschöpfungsketten setzen können, hängt Münsters Wohlstand praktisch an einem einzigen Sektor – dem staatlichen.

Diese Struktur ist historisch gewachsen und verstärkt sich selbst. Wer in einer Stadt aufwächst, in der Beamtenlaufbahnen und Angestelltenverhältnisse im öffentlichen Dienst dominieren, entwickelt seltener jenen Unternehmergeist, der große Firmen entstehen lässt. Die Mentalität der Sicherheit und Stabilität, die den öffentlichen Sektor prägt, steht oft im Widerspruch zum Risiko und zur Innovation, die Weltklasse-Unternehmen auszeichnen.

Besonders problematisch ist dabei die Entstehung einer regelrechten Hidalgo-Mentalität – jener spanischen Adelsmentalität, die körperliche Arbeit und alles, was mit „Schmutz“ verbunden ist, als unter der eigenen Würde stehend betrachtet. In Städten wie Münster, wo der öffentliche Dienst, die Wissenschaft und die Verwaltung dominieren, entwickelt sich schnell eine subtile, aber wirksame Verachtung für industrielle Tätigkeit, für das Handwerk, ja für die gesamte produktive Privatwirtschaft. Der „saubere“ Arbeitsplatz im klimatisierten Büro, der sichere Beamtenstatus oder die Tätigkeit an der Universität gelten als erstrebenswert – die Fabrikhalle, die Werkstatt oder das unternehmerische Risiko werden dagegen als gesellschaftlich minderwertiger eingestuft.

Diese kulturelle Prägung lässt sich mit Pierre Bourdieus Habitus-Konzept präzise fassen: Der spezifische Münsteraner Habitus – jene unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata – ist über Generationen von der Dominanz des öffentlichen Sektors geformt worden. Was als „distinktiv“ und erstrebenswert gilt, definiert sich über kulturelles und soziales Kapital: Bildungsabschlüsse, Beamtentitel, universitäre Laufbahnen, „saubere“ Bürotätigkeiten. Das ökonomische Kapital der produktiven Privatwirtschaft – der Fabrikant, der Unternehmer, der innovative Ingenieur – rangiert in dieser symbolischen Ordnung deutlich niedriger.

Diese Haltung ist historisch tief verwurzelt und entspricht der Mentalität des deutschen Kaiserreichs, wo der Beamte oder gar der Reserveoffizier gesellschaftlich weit über dem Fabrikanten stand – unabhängig vom tatsächlichen Wohlstand. Münster hat diese vormoderne Statushierarchie in gewisser Weise konserviert und bis heute perpetuiert. Das Problem dabei: Der öffentliche Dienst und der gesamte öffentliche Sektor müssen finanziert werden – und zwar genau von jenen Branchen und Tätigkeiten, von denen man sich in Münster traditionell so weit wie möglich ferngehalten hat. Die produktive Privatwirtschaft, die man kulturell geringschätzt, ist letztendlich die Basis für den Wohlstand, den man genießt.

Der aufschlussreiche Vergleich mit Ostwestfalen

Besonders erhellend wird die Situation Münsters im Vergleich mit dem benachbarten Ostwestfalen-Lippe. Dort, in Städten wie Bielefeld, Gütersloh oder Paderborn, ist eine außergewöhnliche Dichte internationaler Unternehmen entstanden: Miele, Bertelsmann, Dr. Oetker, Claas, Schüco, nobilia, Hörmann, Benteler, Melitta, Phoenix Contact, dSpace – Namen, die weltweit bekannt sind und ganze Branchen prägen. Diese Unternehmen sind oft noch immer familiengeführt, tief in der Region verwurzelt und gleichzeitig global erfolgreich.

Der Unterschied liegt in der industriellen DNA. Ostwestfalen entwickelte bereits im 19. Jahrhundert eine starke Fertigungstradition, zunächst in der Textil- und Leinenindustrie, später im Maschinenbau. Daraus erwuchs eine Kultur der technischen Innovation und des unternehmerischen Muts, die bis heute fortwirkt. Der Anteil industrieller Wertschöpfung liegt dort vielfach zwischen 30 und 40 Prozent – in Münster nur bei etwa 12 Prozent.

Strukturelle Ursachen eines Phänomens

Die Gründe für Münsters wirtschaftliche Besonderheit sind vielschichtig. Historisch fehlte der Stadt ein starker Industriekern. Die Industrialisierung verlief dezentral über das Münsterland verteilt – die Textilindustrie siedelte sich in Emsdetten, Greven oder Oelde an, aber nicht im Zentrum Münster.

Die Stadt profitierte stattdessen von ihrer Rolle als Oberzentrum für Verwaltung und Bildung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkte sich diese Entwicklung noch. Münster wurde durch Behördenverlagerungen und den Ausbau der Universität geprägt, nicht durch privatwirtschaftliche Expansion. Die „Hidden Champions“, auf die das Münsterland stolz ist – Unternehmen wie Windmöller & Hölscher oder Hengst – haben ihre Sitze fast ausschließlich im Umland, nicht in der Stadt selbst.

Konsequenzen einer besonderen Wirtschaftsstruktur

Diese Struktur hat weitreichende Folgen, die sich in Zeiten staatlicher Sparpolitik als besonders problematisch erweisen. Münster bleibt nicht nur stark abhängig von staatlichen Transferleistungen und öffentlichen Geldern – es ist dieser Abhängigkeit praktisch schutzlos ausgeliefert. Die Stadt hat keine wirtschaftlichen Leuchttürme, die internationale Aufmerksamkeit generieren, Fachkräfte anziehen oder innovative Ökosysteme entstehen lassen. Während andere Städte durch ihre Unternehmen „auf die Landkarte“ gesetzt werden, bleibt Münster trotz hoher Lebensqualität wirtschaftlich eher farblos und strukturell verwundbar.

Dabei ist dies kein Versagen, sondern eine bewusste oder unbewusste Entscheidung für ein anderes Entwicklungsmodell. Münster hat sich für Stabilität, Sicherheit und Lebensqualität entschieden – Werte, die durchaus ihre Berechtigung haben. Doch der Preis ist eine gewisse wirtschaftliche Mittelmäßigkeit und die fehlende Fähigkeit, aus eigener Kraft wirtschaftliche Dynamik zu erzeugen.

Münster ist es bislang erstaunlich gut gelungen, die Marktkräfte auf Distanz zu halten. Das Auf und Ab der Konjunktur sorgt hier nicht für die Verwerfungen, die anderenorts in Gestalt von Massenarbeitslosigkeit, Verwahrlosung der städtischen Infrastruktur und sinkenden Einkommen auftreten können. Da der Staat der größte Arbeitgeber und Investor ist, sind die Einkommen relativ sicher, woraus sich erklärt, dass die Gastronomie und der Einzelhandel auch dann noch florieren, wenn anderswo das Geld zusammen gehalten werden muss. Insofern ist die Wirtschaftsstruktur von Münster in gewisser Weise sogar besonders resilient.

Die Kehrseite der Medaille: Strukturelle Verwundbarkeit

Diese kulturelle Barriere verstärkt die strukturellen Probleme erheblich. Eine Stadt, deren Habitus primär über kulturelles Kapital – Bildungsabschlüsse, Beamtentitel und „saubere“ Tätigkeiten – definiert ist, schreckt potenzielle Unternehmer und Industrieansiedlungen ab. Gleichzeitig reproduziert sie über Generationen eine Mentalität, die Innovation und produktive Wertschöpfung als zweitrangig betrachtet. Der Habitus wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Wer in diesem Milieu aufwächst, internalisiert diese Wertehierarchie und reproduziert sie – ein sozialer Teufelskreis, der die Monostruktur kulturell zementiert.

Während privatwirtschaftlich geprägte Städte bei wirtschaftlichen Turbulenzen auf die Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft diverser Branchen und Unternehmen setzen können, ist Münster den Entscheidungen der öffentlichen Hand praktisch ausgeliefert. Die Monostruktur macht die Stadt extrem anfällig für externe Schocks – seien es Haushaltskrisen, politische Richtungswechsel oder strukturelle Reformen der öffentlichen Verwaltung. Sollte der Staat – wie es angesichts der aktuellen Haushaltslage in Bund und Ländern wahrscheinlich ist – seine Ausgaben reduzieren und Personalabbau betreiben müssen, trifft das Münster mit voller Wucht.

Die Stadt hätte dann kaum wirtschaftliche Puffer oder alternative Wachstumsmotoren, um solche Einschnitte abzufedern. Wo andere Städte auf starke Industrieunternehmen, innovative Start-ups oder exportorientierte Dienstleister zurückgreifen können, klafft in Münster eine gefährliche Lücke.

Die jahrzehntelange Vernachlässigung einer eigenständigen privatwirtschaftlichen Basis und die Konzentration auf eine Monostruktur rächt sich dann bitter – es fehlen schlicht die diversifizierten Standbeine, die eine resiliente Stadtökonomie ausmachen.

Die historische Ironie ist dabei kaum zu übersehen: Eine Stadt, die jahrhundertelang auf die produktive Privatwirtschaft herabblickte und sich in kaiserlicher Beamtenmentalität einrichtete, ist heute existenziell darauf angewiesen, dass eben diese verachtete Privatwirtschaft – wenn auch anderswo – genug Steuern erwirtschaftet, um den öffentlichen Sektor zu finanzieren.

Zugespitzt formuliert: Im Grunde lebt Münster von Stütze – nur dass diese Transferleistungen nicht Sozialhilfe heißen, sondern Beamtengehälter, Professorenbesoldung, Verwaltungsbudgets und öffentliche Investitionen. Die Stadt konsumiert Wohlstand, den andere erwirtschaften, und hat sich über Jahrhunderte in der komfortablen Position des alimentierten Verwaltungszentrums eingerichtet. Was geschieht aber, wenn diese externe Finanzierungsquelle schwächer wird?

Diese Struktur erzeugt eine charakteristische Sozialdemografie: Münster kennt zwar keine Superreichen, wie sie andere deutsche Städte durch ihre Industriemagnaten oder Technologie-Unternehmer hervorbringen. Dafür gibt es aber eine außergewöhnlich hohe Konzentration von Menschen, die zwar nicht schwer reich, wohl aber wohlhabend genug sind – Professoren, höhere Beamte, gut situierte Dienstleister –, um die örtlichen Restaurants und die Geschäfte am Prinzipalmarkt zu bevölkern und die Immobilienpreise stetig nach oben zu treiben. Es entsteht eine Art „gehobener Mittelschicht-Blase“, direkt oder indirekt finanziert durch staatliche Transferleistungen, die sich in Konsumverhalten und Lifestyle durchaus privilegiert fühlen kann, ohne jedoch echte wirtschaftliche Wertschöpfung im größeren Stil zu betreiben.

Ein historisches Entwicklungsmodell vor dem Scheideweg

Die Geschichte Münsters zeigt: Nicht jede Stadt muss oder kann Weltkonzerne hervorbringen. Manchmal liegt die Bestimmung einer Stadt in anderen Qualitäten. Doch was über Jahrhunderte als stabiler Entwicklungsweg erschien, erweist sich heute als riskante Monokultur. Die strukturellen Besonderheiten Münsters zu verstehen, ist daher nicht nur historisch interessant, sondern zukunftsentscheidend – um rechtzeitig Alternativen zu entwickeln, bevor der staatliche Rückzug die Stadt vor existenzielle Herausforderungen stellt.

Jetzt wäre es natürlich naiv anzunehmen, dass sich Münster in den nächsten Jahren in eine dynamische Wirtschaftsmetropole verwandelt. Dem steht nicht nur das spezielle Münsteraner „Mindset“ entgegen; die sich abzeichnende wirtschaftliche Entwicklung setzt allen Bestrebungen, die Wirtschaft der Stadt breiter aufzustellen, enge Grenzen. Das wird auch bald der neue Chef der Wirtschaftsförderung erfahren, der zuletzt in gleicher Position in Paderborn tätig war[1]Marco Trienes wechselt nach Münster[2]Einen schlechteren Zeitpunkt hätte er kaum treffen können – jedenfalls mit Blick auf die Gestaltungsmöglichkeiten. Dort hat man es in den letzten Jahrzehnten geschafft, u.a. durch den Technologiepark und die garage 33, eine Gründerszene zu etablieren und die Wirtschaft breiter aufzustellen.

Es ist schon irgendwie erstaunlich, dass es einer Stadt mit 60.000 Studentinnen und Studenten, mit einer der größten Universitäten Deutschlands und zahlreichen Forschungsinstituten nicht gelungen ist, eine halbwegs lebendige Gründerszene in zu etablieren. Das muss man auch erst einmal schaffen.

Münster ist eine Stadt, der bislang der unternehmerische „Magnetismus“ fehlt, um eine lebendige Szene im öffentlichen Raum und in der Wahrnehmung zu erzeugen. Ähnliche Universitätsstädte wie Göttingen oder Jena stehen vor vergleichbaren Herausforderungen. Doch Münster sticht besonders hervor – gerade wegen des Missverhältnisses zwischen einer großen Studierendenzahl und einer vergleichsweise schwach ausgeprägten, sichtbaren Start-up-Dynamik[3]GRÜNDUNGSRADAR 2025.

References

References
1 Marco Trienes wechselt nach Münster
2 Einen schlechteren Zeitpunkt hätte er kaum treffen können – jedenfalls mit Blick auf die Gestaltungsmöglichkeiten
3 GRÜNDUNGSRADAR 2025

Von Rolevinck

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