Vom Dresdner Zwinger des Matthäus Daniel Pöppelmann über die prächtigen Barockbauten eines Johann Conrad Schlaun bis zu den zeitgenössischen Entwürfen Josef Paul Kleihues‘ – Westfalen hat über die Jahrhunderte eine bemerkenswerte Architektentradition hervorgebracht, die weit über die regionalen Grenzen hinaus gewirkt hat und bis heute das Gesicht deutscher Baukunst mitprägt.


Die westfälische Baukunst erzählt eine Geschichte von außergewöhnlicher Kontinuität und kreativer Vielfalt, die sich über mehr als fünf Jahrhunderte erstreckt. Es ist eine Geschichte, die mit Namen beginnt, deren architektonische Vermächtnisse heute noch Millionen von Menschen bewundern – auch wenn ihre westfälischen Wurzeln oft in Vergessenheit geraten sind.

Die großen Wegbereiter

Bereits im Mittelalter verließen westfälische Baumeister ihre Heimat, um andernorts architektonische Meisterwerke zu schaffen. Arnold von Westfalen schuf mit der Albrechtsburg in Meißen einen der ersten deutschen Schlossbauten der Spätgotik – wobei seine Herkunft, bis heute nicht eindeutig geklärt ist, jedoch einen deutlichen Bezug zu der Region erkennen lässt.

Unbestritten ist hingegen die westfälische Herkunft des Matthäus Daniel Pöppelmann: Der in Herford geborene Architekt gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des deutschen Barock und als Schöpfer des weltberühmten Dresdner Zwingers. Pöppelmann verkörpert wie kein anderer die überregionale Ausstrahlung westfälischer Baukunst – ein westfälischer Architekt, der das Gesicht des sächsischen Barock prägte und damit zu einem der einflussreichsten Baumeister seiner Epoche wurde.

Nikolaus van Bueren wiederum wirkte als Dombaumeister am Kölner Dom und trug somit zur Vollendung eines der bedeutendsten gotischen Bauwerke Europas bei – ein weiterer Beweis dafür, dass westfälische Architekten schon früh über die Grenzen ihrer Heimatregion hinaus wirkten.

Der westfälische Barock

Das 17. und 18. Jahrhundert markierten eine besondere Blütezeit der westfälischen Baukunst. Johann Conrad Schlaun prägte mit seinem charakteristischen „Westfälischen Barock“ eine eigenständige Regionalvariante dieser europäischen Stilepoche. Seine Bauten zeichneten sich durch eine spezifische Verbindung von barocken Formelementen mit regionalen Traditionen aus und setzten damit Maßstäbe, die weit über Westfalen hinaus Beachtung fanden.

Zeitgenossen wie Franz Christoph Nagel und Ambrosius von Oelde ergänzten diese Entwicklung, während Gottfried Laurenz Pictorius dem Münsterland eine Vielzahl prächtiger Barockbauten schenkte. Diese Architekten schufen nicht nur einzelne Bauwerke, sondern formten das Gesicht ganzer Landstriche und etablierten eine westfälische Bautradition, die bis heute nachwirkt.

Klassizismus und Romantik

Der Übergang zur Klassik brachte mit Clemens August von Vagedes einen Baumeister hervor, der als „Freund des englischen Gartens“ bezeichnet wurde und damit die Verbindung von Architektur und Landschaftsgestaltung exemplarisch verkörperte. Zusammen mit seinem nicht minder begabten Bruder Adolph repräsentierten die Vagedes eine neue Generation westfälischer Architekten, die antike Ideale mit zeitgenössischen Anforderungen zu verbinden wussten.

Die Brüder Wilhelm Ferdinand und Clemens Lipper etablierten sich als bedeutende Vertreter des deutschen Klassizismus, während August Reinking als Nachkomme des Gottfried Laurenz Pictorius die Tradition der westfälischen Baumeisterdynastien fortsetzte und als Hofarchitekt des Grafen zu Bentheim-Steinfurt wirkte.

Adrian Wewer wurde zu einem der bedeutendsten Kirchenbaumeister der Vereinigten Staaten von Amerika. Arnold Güldenpfennig, Franz Mündelein sowie die Brüder August und Wilhelm Rincklake wären ebenfalls im Bereich des katholischen Sakralbaus tätig.

Wissenschaft und Theorie

Neben der praktischen Baukunst entwickelte sich in Westfalen auch eine bedeutende Tradition der Architekturtheorie. Friedrich Ostendorf wirkte als Hochschullehrer und Theoretiker, Hugo von Ritgen wurde als Restaurator der Wartburg bekannt, und Wilhelm Tape etablierte sich als angesehener Landbaumeister und Architekturtheoretiker. Diese Persönlichkeiten verdeutlichen, dass westfälische Baukunst nie nur praktisches Handwerk war, sondern stets auch intellektuelle Reflexion und wissenschaftliche Durchdringung umfasste.

Moderne und Gegenwart

Die Kontinuität westfälischer Bautradition zeigt sich eindrucksvoll in der zeitgenössischen Architektur. Josef Paul Kleihues aus Rheine setzte bundesweit architektonische Akzente, insbesondere in Berlin, und wurde zu einem der prägenden Gestalter der deutschen Nachkriegsmoderne. Harald Deilmann schrieb mit seinen WestLB-Bauten ein Stück nordrhein-westfälische Architekturgeschichte, während Karl-Heinz Petzinka mit Projekten wie dem Düsseldorfer Stadttor und der Bundesgeschäftsstelle der CDU in Berlin nationale Beachtung fand.

Ingeborg Flagge verkörpert als Architekturprofessorin, Direktorin des Deutschen Architekturmuseums und Publizistin die zeitgenössische Verbindung von praktischer Architektur, Wissenschaft und Öffentlichkeitsarbeit.

Institutionelle Verankerung

Das Institut für Stadtbaukunst an der TU Dortmund unter der Leitung des renommierten Stadtarchitekten Christoph Mäckler hat sich in den letzten Jahren zu einer der ersten Adressen im Bereich der Architekturforschung entwickelt. Diese institutionelle Verankerung zeigt, dass Westfalen auch heute noch wichtige Impulse für die deutsche und internationale Baukunst liefert.

Schatten der Geschichte

Die westfälische Architektentradition weist allerdings auch dunkle Kapitel auf, die nicht verschwiegen werden dürfen. Aus Dortmund stammte Albert Friedrich Speer, dessen Sohn Albert Speer als Kriegsminister unter Adolf Hitler zu einem der Hauptverantwortlichen für die Greueltaten des nationalsozialistischen Regimes wurde. Diese familiäre Verbindung mahnt daran, dass Architektur nie unpolitisch ist und dass bauliche Gestaltung stets auch Ausdruck gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse darstellt.

Ein lebendiges Erbe

Die Geschichte der westfälischen Baukunst ist mehr als eine Aufzählung bedeutender Namen und Bauwerke. Sie erzählt von der besonderen Fähigkeit einer Region, über Jahrhunderte hinweg kreative Persönlichkeiten hervorzubringen, die weit über ihre Heimat hinaus gewirkt haben. Von den mittelalterlichen Dombaumeistern über die Barockarchitekten bis hin zu den zeitgenössischen Stadtplanern zeigt sich eine bemerkenswerte Kontinuität des architektonischen Schaffens.

Diese Tradition lebt heute fort in den Hörsälen der Technischen Universität Dortmund, in den Büros zeitgenössischer Architekten und in der anhaltenden Diskussion über die Zukunft unserer gebauten Umwelt. Westfälische Baukunst war nie nur regional, sondern stets Teil eines größeren kulturellen und gesellschaftlichen Diskurses – eine Eigenschaft, die sie auch heute noch auszeichnet und für die Zukunft prädestiniert.


Quelle:

Westfälische Architekten

Von Rolevinck

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